Wasserburg – Will man von der unentwegt grassierenden Pandemie eigentlich noch hören? Ist es nicht opportuner, Eskapismus zu betreiben und in Urlaubsparadiese zu entweichen?
Dennoch wagten die Pianistin Yume Hanusch und der Sprecher vom Bayerischen Rundfunk Michael Atzinger eine Konzert-Lesung mit dem Motto „In Zeiten der Ansteckung“ im Wasserburger Rathaussaal.
Solidarität
in Notzeiten
Dem Publikum wurden keine Unmutsäußerungen über Sicherheitskonzepte im Stil erbitterter Leserbriefe zugemutet, noch betuliche Lebenshilfe angeboten. Michael Atzinger hatte Texte favorisiert, die Themen ansprechen, die auch ohne Corona zu jeder Zeit auf den Nägeln brennen müssten: Wie stabil ist unsere Zivilisation, ist sie nur ein Kartenhaus? Kann man selbst in Notzeiten auf allgemeine Solidarität vertrauen? Und schließlich: Was ist eigentlich Einsamkeit genau? Die Kernaussagen des Abends kommen aus unterschiedlichsten Zeiten: Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau schrieb 1845 das Buch „Walden, oder Leben in den Wäldern“ und sinnierte über die Einsamkeit, die er vor allem im Getriebe banaler Geselligkeit erlebte. „Die Pest“ von Albert Camus war 1947 erschienen.
Dieser Roman schildert das Zerbröckeln einer Kultur unter der destruktiven Macht der Angst. Die jüngste Publikation (April 2020) stammt von dem italienischen Autor und promovierten Physiker Paolo Giordano. Er schreibt gewissermaßen Tagebuch und protokolliert nüchtern, aber mit wachem Auge, wie die Veränderungen unser Leben beeinträchtigen. Wer hätte gedacht, dass Normalität für uns wieder ein (utopisches?) Ideal werden könnte… Michael Atzinger gelang es mühelos, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Selbst gewichtige Sinnzusammenhänge kann er durch klare und modulationsreiche Diktion so unmittelbar plausibel machen, dass dem Publikum grübelndes Nachsinnen erspart bleibt. Die von der Pianistin ausgewählten Stücke (und Bildprojektionen) waren keine pure Verzierung; sie passten sich auch thematisch den Texten an. Als Beethoven über sein verpatztes Jubiläumsjahr wettert (eine köstlich kabarettistische Nummer!), kam „Die Wut über den verlorenen Groschen“ wirkungsvoll zum Einsatz. Bezwingend Leos Janaceks „Im Nebel“ oder das unter die Haut gehende „Dream images“ von George Crumb. Natürlich durften auch Klassiker wie Mendelssohn-Bartholdy oder Robert Schumann nicht fehlen. Mit dem „Fantaisie-Impromtu cis-Moll op. 66“ von Frédéric Chopin setzte Yume Hanusch einen ebenso virtuosen wie besinnlichen Abschluss. Heftiger Beifall des zahlenmäßig kontingentierten Publikums „erzwang“ eine Zugabe. Fazit: So lässt sich unsere derzeitige Misere sinnvoll reflektieren. Also doch Lebenshilfe? Unbedingt, aber nicht betulich! Walther Prokop