Jazz trifft Beethoven

von Redaktion

Interview Der Aiblinger Jazz-Musiker Chris Gall über Corona und neue Projekte

Bad Aibling/München – Chris Gall, einer der renommiertesten Jazz-Pianisten Deutschlands, bekannt als Ensemble-Mitglied der Echo-Jazz prämierten Gruppe Quadro Nuevo, spricht im Interview über seine Situation als freischaffender Künstler, sein neues Projekt, ein Zusatzstudium und über die Besonderheit des Live-Erlebnisses.

Ihre Branche, die nicht als systemrelevant gilt, ist mit am stärksten von der Pandemie betroffen. Wie sieht da ein praktisches Beispiel aus der Sicht des Jazzpianisten aus?

Chris Gall: Ich hätte in den letzten drei Monaten rund 40 Konzerte gehabt. Im Oktober waren noch einzelne Veranstaltungen mit limitierten Zuhörern möglich. Fast alle Termine werden verschoben, aber das bedeutet ja keine Kompensation, denn Konzertbesucher oder Veranstaltungstage lassen sich ja nicht doppelt generieren. Momentan geht gar nichts.

Kann man den Ausfall in Prozent ausdrücken?

Das sind 100 Prozent in meinem Kernbereich „Live-Auftritte“, aber ich habe mir die vergangenen Jahre ein weiteres Standbein geschaffen und zwar durch Kompositionen für Filme oder TV-Serien. Hinzu kommen glücklicherweise noch Einnahmen aus Urheberrechten, nicht zu vergessen der Bereich Gema. Grundsätzlich ist es aber schon existenzbedrohend, da ich an keiner Musikschule bin und bis auf ein paar Streamingkonzerte alles ein Totalausfall war.

Sie hatten im Beethoven-Jubiläumsjahr Ihr bisher voluminösestes Projekt geplant: Das Klavierkonzert Nr. 1 mit der Philharmonie Salzburg unter dem Thema „Beethoven goes Jazz“, ursprünglich Ende Oktober vor über 1100 Zuschauern angesetzt, dann auf Dezember verschoben. Wie ist der Stand?

Der Termin ist definitiv auch schon abgesagt und vorläufig auf Ende Januar neu verplant. Das Problem ist der extrem lange Planungsvorlauf mit großem Orchester, verstärkt noch durch die Internationalität der Musiker, die aus Risikogebieten mit unterschiedlichen Coronamaßnahmen anreisen. Diese verschobenen Konzerte müssen dann in den bereits bestehenden Veranstaltungskalender wie in ein Puzzle eingefügt werden.

Ist es von Vorteil, dass Sie in verschiedenen Formationen unterwegs sind?

Am einfachsten, weil flexibelsten, ist es natürlich jetzt, solo aufzutreten, da hätte ich gerade zwei Auftritte, einen beim Jazzfest München, gehabt, aber organisatorisch wird es umso schwieriger, je breiter man aufgestellt ist. Andererseits kann ich in viele Richtungen planen, sobald wir für Live-Konzerte wieder grünes Licht erhalten.

Zurück zu Ihrem Projekt in Salzburg: Wie entstand diese Symbiose Klassik – Jazz?

Als Klavierschüler war die Klassik anfangs meine musikalische Welt, bis ich den Jazz entdeckt habe. Jetzt hatte ich 20 Jahre lang keine Schnittmenge mehr mit Klassik, wurde aber von der Philharmonie Salzburg gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, ein Beethoven-Klavierkonzert für das Jubiläumsjahr zu bearbeiten, wobei es das Orchester so original spielt, wie es in den Noten steht, ich aber als Jazzmusiker frei darüber improvisieren oder variieren kann.

Wie muss man sich das vorstellen? Ist das auf die Kadenz festgelegt?

(lacht) Mir wurden alle Freiheiten für das Klavierkonzert Nr. 1 von Beethoven gewährt. Ich habe es deshalb gewählt, weil es mir noch am besten im Ohr war. Spannend wird es, wenn das Orchester original spielt und man dessen Notierung nicht bearbeiten kann, wodurch ich gezwungen bin auch selbst nahe am Klaviertext zu bleiben. Ich bin dann für diesen Moment des Konzerts fast wie ein DJ, der einen Remix macht. Das Publikum hört Sachen, die es sehr gut kennt, die anders und frisch klingen, nicht „besser“, das ist nicht mein Ansatz. Ich will nur für das anwesende Publikum das Werk in einer frischen Version zu Gehör bringen.

Sie haben von einem zweiten Standbein, der Filmmusik gesprochen. Was tut sich in diesem Bereich?

Schon in den Osterferien hatte ich realisiert, dass die Einschränkungen durch den Lockdown wie auch immer noch länger dauern. Ich hatte bisher sehr intensiv live gespielt, nebenbei aber erste Erfahrungen mit Filmmusik und Komposition gemacht, und so entstand die Idee mich in diesem Bereich fortzubilden. Ich habe dann ein Online-Fernstudium in Boston angefangen am Berkley College of Music, an dem ich vor über 20 Jahren meine Ausbildung zum Jazzpianisten gemacht hatte. Dieses Fernstudium ist extrem Corona-kompatibel aber sehr intensiv, ein komplett neuer Input mit verpflichtenden Hausaufgaben und die Klassen finden meist erst nach Mitternacht statt, weil durch Kommilitonen aus Australien und Hollywood verschiedene Zeitzonen im Spiel sind.

Wann wird man Chris Gall in Rosenheim und Umgebung wieder live erleben können? Ihre Prognose?

Vielleicht schon im Januar, aber ich fürchte erst im Frühjahr, wenn sich durch die wärmere Jahreszeit die Lage etwas entspannt. Wann es allerdings unter normalen Umständen wieder möglich ist, dass Besucher ganz unbedarft und unbefangen irgendwo hingehen, sich auf einen Abend mit Musik freuen, das steht in den Sternen. Trotz der Summe aller Konzepte im Veranstaltungsbetrieb, die in den Sommermonaten entwickelt wurden, sind wir nun in der Situation zunehmender Infektionszahlen, die ganze Branche ist definitiv ohne Auftrittsmöglichkeiten und es hängt ja sehr viel mehr dran als nur die Musiker selbst. Man vergisst viel zu oft die hauptberuflich Beschäftigten für Hallen, Probenräume, Veranstaltungstechnik etc. In der Kulturbranche könnte mit wesentlich kleineren Beträgen sehr viel mehr zum Überleben beigetragen werden, als dies bei börsennotierten Unternehmen mit Milliardenhilfen gemacht wird.

Gerade wenn man weiß, dass die Eventbranche mit einem Umsatz von 130 Milliarden Euro zu den sechs stärksten Wirtschaftszweigen zählt…

Das ist der finanzielle Aspekt, es geht aber auch darum, dass Kultur Lebensfreude verbreitet und wenn der jetzige Zustand noch rund zwei Jahre dauern sollte, entsteht eine Generation, die ein Kultur- und Kunsterlebnis wie wir es kennen, nicht mehr erfährt. Ich hoffe, dass es dann noch Künstler gibt, die diese Zeit überstanden haben. Kunst und Kultur ist ein so wichtiges und unerlässliches Element unserer Gesellschaft, um unseren Alltag aufzubrechen, dass man auf das gemeinschaftliche Erlebnis eines Konzertes nicht verzichten kann. Ich muss an dieser Stelle den Trompeter Till Brönner zitieren: „Wir sind doch das Land der Dichter und Denker und die Kunst- und Kulturszene in einen Topf zu werfen mit der Freizeitindustrie vernichtet über Jahre hinaus Existenzen.“ Interview: Arnulf Lüers

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