Rosenheim – Seit März 2019 ist die Vetternwirtschaft Schauplatz eine Theaterreihe, deren Inszenierungen aus Robert Musils Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ herausdestilliert sind. Regie bei diesem umfangreichen Projekt führen Valerie Kiendl und Dominik Frank.
Was war der Zündfunke, sodass Sie wussten, eine theatralische Umsetzung des Romans sei nicht nur möglich, sondern auch Erfolg versprechend?
Dominik Frank: Das wussten wir nicht. Da mussten wir – ganz wie Musil selbst – das Wagnis eingehen, dieses größenwahnsinnige Projekt zu starten und auf das Beste zu hoffen. Aber die Tatsache, dass wir beide unabhängig voneinander diesen Roman in unseren Uni-Abschlussprüfungen als Thema gewählt und lieben gelernt haben, schien schon mal eine gute Voraussetzung.
Valerie Kiendl: Wir können die Situation nicht mehr genau rekonstruieren, aber ich erinnere mich, dass Dominik zu mir gekommen ist und mir eine „vielleicht etwas große Idee“ vorgestellt hat verbunden mit der Frage, was ich das nächste halbe Jahr vorhätte. Dann haben wir erst einmal vier Folgen konzipiert. Da schon die Pilotfolge vom Rosenheimer Publikum extrem gut aufgenommen wurde, haben wir uns sehr bald entschieden, es nicht nur bei einer Staffel zu belassen… inzwischen wurden aus dem halben Jahr schon über zwei Jahre – und bisher ist nur die Nummer für die letzte Folge sicher: die 20.
Frank: Die 20 haben wir gewählt, weil sie auch für Robert Musils Privatzahlenmystik eine große Bedeutung hatte.
Ihre Truppe nennt sich „Regie-als-Faktor“. Wie ist diese Bezeichnung zu verstehen?
Frank: Unser erstes Stück 2012 beschäftigte sich mit Kassibern der Roten Armee Fraktion. Wir suchten deshalb einen Theaternamen, der sich ebenso mit RAF abkürzen lässt. Auf der anderen Seite drückt der Name einen Kollektiv-Gedanken aus: Regie soll ein Faktor unter mehreren sein, die gleichberechtigt das Theatererlebnis schaffen. Schauspielkunst, Bühnenbild, Kostüme, Licht, Musik und Dramaturgie sind genauso entscheidend. Und drittens steht der Name für eine positive Konnotation des Begriffs „Regietheater“, der einen stark interpretierenden Zugriff auf klassische Stoffe beschreibt.
Welche der bisherigen Folgen bedeutete für Sie eine besondere Herausforderung?
Kiendl: Bei mir teilen sich zwei Folgen den Spitzenplatz: technisch war es die Livestream-Episode, da wir von sehr viel Technik abhängig waren, die stabil laufen musste. Vom technischen Ablauf einer Episode war es die Rassismus-Folge, wo parallel zur Vorstellung gekocht wurde. Wir konnten zwar die Zeiten der jeweiligen Textpassagen stoppen und die Reihenfolge des vom Publikum zu schnippelndem Gemüses und die Kochzeiten koordinieren, aber ich erinnere mich noch wie fünf Minuten, bevor das Menü für das Publikum fertig wurde, der Schauspieler Anton Schneider vor mir steht und sagt: Also wir wären fertig, kann ich schon was mitnehmen?
Frank: Auch künstlerisch würde ich diese Folge nennen. Da wir uns hier mit Musils rassistischen und exotischsten Stereotypen beschäftigten und diese mit der – heute zu Recht kritisierten – theatralen Praxis des Blackfacings kurzgeschlossen haben.
Kiendl: Ich würde sagen, der besondere Reiz dieses Projektes liegt darin, dass wir sehr assoziativ und spontan, vielleicht manchmal auch etwas naiv an die Umsetzungen der jeweiligen Folgen gehen können. Wir wissen selbst nie vorher, was wie funktionieren wird und was nicht; die Fußball-Episode würden wir zum Beispiel so nicht nochmal machen. Das hat in unserem Kopf besser funktioniert als bei der Aufführung. Aber das gehört ja dazu: Experimentierfreude!
Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ beschäftigt sind?
Frank: Neben Musil beschäftigen wir uns gerade mit einem Projekt zum französischen feministischen Existentialismus, das eine lesbische Liebesgeschichte erzählt und hoffentlich im Sommer in Rosenheim Premiere feiern kann.
Kiendl: Ich habe in Würzburg gerade noch zwei fertige Produktionen in Corona-Warteschleife: Eine Neubearbeitung von Marivaux‘ „Der Streit“ und Franz-Xaver Kroetz‘ „Wunschkonzert“. Den Streit“ konnten wir in einer Filmfassung an Ostern schon mal vorab präsentieren.
Sie richten den Blick auf besonders ergiebige Protagonisten des Romans. Haben Sie Lieblings-„Helden“?
Kiendl: Für mich ist das ganz klar Clarisse, die man als Anti-Figur zu Ulrich lesen kann und der wir daher einen eigenen kleinen Handlungsbogen gewidmet haben. Denn Clarisse lässt sich nicht wie manch andere Figur in einer Folge einfangen; sie ist zu vielschichtig und agiert ihrerseits mit den entscheidenden Figuren des Romans: Ulrich, Moosbrugger, schreibt Briefe an die Parallelaktion etc.
Frank: Auch der Frauenmörder Moosbrugger ist eine im wahrsten Sinne unheimlich interessante Figur, die wir schon aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten konnten.
Kiendl: Und dann gibt es noch die Figuren, die man irgendwie lieb haben muss, wie beispielsweise General Stumm von Bordwehr.
Wie rechnet sich der Aufwand? Die Eintrittspreise sind moderat, und der Zuschauerkreis aus Platzgründen beschränkt.
Frank: Hier gebührt unser größter Dank dem Verein für bodenständige Kultur, der Ausstattungs- und sonstige Unkosten übernimmt. Wir beide sowie alle anderen beteiligten Schauspieler und Musiker arbeiten für dieses Projekt ehrenamtlich und aus reiner Liebe zu Musils Roman.
Kiendl: Dazu unterstützt uns das Team der Vetternwirtschaft mit geballter Kreativität, wenn es um aufwendigere Konstruktionen, wie die verlegte Technik bei der Freilicht-Museums-Folge oder den Bau eines Boxrings geht.Interview: Walther Prokop