Auf der inneren Suche nach der Wahrheit

von Redaktion

Katalin Zsigmondy und August Zirner lesen Texte von Tolstoi bei der Goethe-Gesellschaft Rosenheim

Rosenheim – „Tolstois natürliches Gewissen und sein Gerechtigkeitsgefühl habe ich besonders gern“, gestand Katalin Zsigmondy den zahlreichen Zuhörern im Künstlerhof am Ludwigsplatz. Im Wechsel mit ihrem Mann August Zirner las die Schauspielerin auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim Kapitel aus Tolstois „Kindheit“ und „Knabenalter“.

Der junge Tolstoi hatte sein Jura-Studium abgebrochen, beruflich keine Perspektiven und führte ein widerliches Leben. Doch sehnte er sich danach, anständig zu leben. Im Alter von 23 Jahren schrieb er sein Erstlingswerk „Kindheit“, das in Fortsetzungen in einer Zeitung veröffentlicht wurde. In einer Reihe zufällig aufeinander folgender Episoden schildert Tolstoi darin die Erlebnisse des jungen Nikolenka, den die Atmosphäre einer glücklichen Kindheit umgibt. Das Werk, erklärte Zsigmondy, sei keine reine Autobiografie. So sei etwa Tolstois Mutter, deren Tod er eindringlich beschreibt, schon viel früher gestorben. Der Protagonist der Erzählung ist dennoch Tolstoi selbst.

Zsigmondy und Zirner fanden für die teilweise skurrilen, oft anrührenden Episoden sofort den richtigen Tonfall. Witzig schildert Tolstoi den gutmütigen, etwas kauzigen Hauslehrer Karl Ivanytsch, zu dem Nikolenka eine zwiespältige Beziehung hat. Bewegend war die Passage, in der dem kleinen Jungen die Stimme versagt, als er zum Geburtstag seiner Großmutter ein selbstgeschriebenes Gedicht aufsagen soll, glaubwürdig seine Gewissensbisse, als er dabei mitmacht, einen Spielkameraden zu quälen. Kraftvoll, frisch und lebendig beschreibt Tolstoi die Arbeit der Bauern bei der sommerlichen Getreideernte. Beim Anblick seiner toten Mutter, die fahl und wächsern im Sarg liegt, empfindet Nikolenka einen traurigen Genuss.

In „Kindheit“ verbindet Tolstoi geschickt Wirkliches und Erdachtes. „Wenn wir alles nur nach der Wirklichkeit sehen wollten, gebe es überhaupt kein Spiel mehr“, so der Autor. Dass Tolstoi auf der inneren Suche nach Wahrheit intensiv über die Probleme des Lebens nachdenkt und sich dabei oft schonungslos und selbstquälerisch analysiert, faszinierte die Hörer. Später, in dem Buch „Knabenjahre“, erfährt Tolstoi eine seelische Wandlung. Er erkennt, dass das Glück vom Verhältnis zu den äußeren Umständen abhängt.

Für die einfühlsame Lesung erhielt das Schauspielerehepaar vom Publikum lang anhaltenden Applaus.

Georg Füchtner

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