Tante Liesl auf dem Weg in ihr Eldorado

von Redaktion

Biografischer Roman über Auswanderer nach Argentinien von Claus Tully

Grassau – Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen hat der Soziologe und Volkswirtschaftler Professor Dr. Claus Tully schon geschrieben. Er forschte am Deutschen Jugendinstitut in München, lehrte als Privatdozent an der Freien Universität Berlin und als Professor an der Universität Bozen sowie in Buenos Aires. Tully wohnt seit Jahrzehnten im Achental, zuletzt in Grassau.

„Liesls Eldorado – auf dem Weg in die neue Heimat“ ist sein erster „Roman“, eigentlich eine biografische Erzählung über seine Tante Liesl, die zwischen den beiden Weltkriegen von Steinbach bei Zeil in Franken nach Argentinien auswanderte.

Die Geschichte um seine Tante Liesl und die Verwandten in Argentinien prägten Tully als jüngstes von fünf Kindern seit seiner Kindheit. „So ferne Verwandte in Südamerika waren damals schon was ganz Besonderes“, erinnert sich Tully im Gespräch. Nach seiner Lehre als Maschinenschlosser und Abitur auf dem zweiten Bildungsweg studierte der heute 71-Jährige Soziologie und Volkswirtschaft in München. Nach Promotion und Habilitation in Berlin erfüllte er sich den Traum von einer langen Reise durch Argentinien.

Als Soziologe interessierten ihn vor allem biografische Interviews mit Auswanderern unter dem Aspekt, ob der Besitz von zwei Pässen – damals bei Immigranten üblich – legal sei. Dazwischen befasste Tully sich aber auch mit der eigenen Familiengeschichte. Nur einmal hatte er Tante Liesl persönlich bei einem Heimatbesuch selbst kennengelernt. Erst nachdem sie nach Argentinien zurückgekehrt war und bald darauf starb, begann er, sich für die Familiengeschichte zu interessieren.

Liesl war 1942 ihrem ausgewanderten Verlobten nach Argentinien gefolgt, der sie allerdings bitter enttäuschte, weil er schnell eine andere Frau hatte. Sie lernte jedoch bald ihren späteren Mann kennen, mit dem sie eine glückliche Ehe führte.

In seinem Buch beschäftigt sich der Autor intensiv mit den sozioökonomischen Hintergründen in Europa im Vergleich zu denen in Argentinien. Das Besondere an Argentinien war vor allem, dass es eine Ansammlung von Menschen verschiedener Nationen und Sprachen war, die sich zusammenraufen mussten. „Liesls Eldorado“ beschreibt in einer biografischen Rekonstruktion, wie die Menschen mühsam und hartnäckig sich eine Existenz aufbauten.

Tully setzt auf genau recherchierte Beschreibungen von Orten, Bildern und Prominenten in Buenos Aires, zum Beispiel das Postamt, den Hafen, die Stadtteile und die besonderen Sprachausdrücke der 1930er-Jahre. Auch Victoria Ocampo, eine berühmte Kosmopolitin ihrer Zeit, die vor und nach dem Krieg zahlreiche Kontakte zur Politik- und Kulturszene in Europa pflegte, spielt eine Rolle.

Nur wenige Szenen und Nebenfiguren in der Erzählung sind wegen der besseren Lesbarkeit erfunden. Lesenswert dürfte das Buch für Menschen mit Interesse an Südamerika und der Zeitgeschichte sein, aber besonders an der Geschichte von Frauen, die schon im frühen 20. Jahrhundert und der Vorkriegszeit emanzipiert genug waren, sich allein auf den Weg zu machen und ihr Leben auf einem fremden Kontinent zu führen.

Auf den eng bedruckten 230 Seiten gibt es nur wenige Bilder, darunter vom originalen Kofferanhänger der auswandernden Liesl, ein Foto von ihr und ihrem Mann in Buenos Aires um 1938 oder eine Landkarte, die zeigt, welche Verbindungen zwischen Personen und Orten auf beiden Kontinenten bestanden.Christiane Giesen

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