100 Menschen in Kittelschürzen

von Redaktion

Die Ausstellung „Kunst im Amt“ in Traunstein als Streifzug durch die Kulturgeschichte

Traunstein – Ein echtes Erlebnis bietet die aktuelle Ausstellung „Kunst im Amt“, die noch bis 4. November im Landratsamt Traunstein zu sehen ist. Das liegt sowohl an den Künstlern und Künstlerinnen wie auch an den so speziellen wie unterschiedlichen Themen, mit denen uns die drei konfrontieren: die Fotokünstlerin Anna Kirsch aus Bad Feilnbach, der Künstler, Webdesigner und Buchautor Uli Reiter aus Gstadt am Chiemsee sowie die Künstlerin Claudia Weber aus Traunstein. Alle drei wurden im vergangenen Jahr im Rahmen der Jahresausstellung des Kunstvereins Traunstein mit dem „Roter-Reiter-Preis“ ausgezeichnet. Dieser wird für Kunstäußerungen vergeben, „die inhaltlich und ästhetisch Zeitbezüge aufweisen, neue Sehgewohnheiten hervorrufen und bzw. oder einen experimentellen Charakter haben“.

Wechselspiel
mit der Umwelt

Die gebürtige Rosenheimerin Anna Kirsch, die Seminare an verschiedenen europäischen Kunstakademien besucht hat, setzt sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit dem Menschen im Wechselspiel mit Umwelt, Gesellschaft und Geschichte auseinander.

Wie ein Kleidungsstück gleichsam zum Träger einer Lebenseinstellung und bestimmter Wertmaßstäbe, größer gedacht sogar zu einem Stück Kulturgeschichte werden kann, zeigt Kirsch in ihrer Serie „In her aprons“. In zehn von ursprünglich 100 überlebensgroßen Fotografien zeigt die Kulturforscherin im Landratsamt spärlich bekleidete Frauen, Männer und Kinder in sogenannten Kittelschürzen. Gerade bei älteren Besuchern lösen diese Kleidungsstücke beim Betrachten unvermittelt eine Kaskade an Assoziationen, Emotionen und Erinnerungen aus. Sie stehen als Repräsentanten für Fleiß, Bescheidenheit, Achtsamkeit und Sparsamkeit, aber auch als Symbol für Schutz vor Schmutz sowie moralische und weltanschauliche Gebote und Einengungen. Indem Kirsch die zum Teil immer und immer wieder geflickten Kittelschürzen Kinder, tätowierte Männer und attraktive junge Frauen in Unterwäsche tragen lässt, durchbricht sie althergebrachte Sehgewohnheiten, die vor allem Mütter und Großmütter mit Schürzen kennen.

Wie Kirsch im Gespräch erklärt, löste das Tragen der Kittelschürzen bei ihren Models eine „intensive und emotionale Erfahrung“ aus. Nicht das Bewerten, son-dern das Hinterfragen einer „weitgehend unbewussten Dynamik von Überlieferungen in sozialen und familiä-ren Systemen“ sei ihr ein besonderes Anliegen gewe-sen.

In vielfältigen Funktionen und Tätigkeiten spürt Uli Reiter gesellschaftlichen Phänomenen, Entwicklungen und Verwerfungen nach: als (Mulitmedia-) Künstler und Webdesigner, Softwarespezialist, Coach und Unternehmensberater oder Buchautor, der sich akribisch mit Themen wie Korruption, Illegalität, Krankhaftigkeit oder Traumforschung beschäftigt. Den „Geheimnissen der Bürokratie“ geht Reiter in einer 30 Elemente umfassenden Installation im Landratsamt mit feiner Ironie auf den Grund. Statt schön aufgereiht im Schrank sind die Aktenordner bei ihm als Inbegriff strukturierter Ordnung geöffnet an die Wand geheftet.

Aus ihnen ergießen sich kaskadenartig lange, gelochte Papierbahnen. Sie sind bedruckt mit codierten Schriftzeichen, die den Inhalt – soziologische Texte von Reiter zum Thema Bürokratie – verschlüsseln und somit nur für Eingeweihte verstehbar machen. Eine humorvolle Anspielung auf manche Formularvordrucke in unabsichtlich verrätseltem „Amtsdeutsch“?

Dazwischen montierte Zitate Reiters zeigen die lange kulturhistorische Tradition der Bürokratie bis hin zu den „Herren der tönernen Steine“ 4000 vor Christus im Mesopotamien. Sie machen die Kulturleistung der Bürokratie deutlich, die als Archiv- und Ordnungsstruktur erst komplexere gesellschaftliche Organisationsformen ermöglicht hat, hinterfragen zugleich aber deren Übertreibungen.

In großformatigen Gemälden voller minutiös ausgearbeiteter Details geht wiederum Claudia Weber als dritte Ausstellerin dem Spannungsfeld von Bionik, Medizin und der gnadenlosen Kommerzialisierung der Natur nach.

Pervertierung
der Träume

Sie zeigt hochästhetische, in altmeisterlicher Technik ausgeführte Ansichten von Nesseltieren. Die Faszination darüber weicht beim Blick aufs Detail schnell einem seltsamen Gefühl des Grusels: Die Tiere sind Mischwesen aus Quallen, Gelenk teilen und Knochenformen.

Ein in der Ausstellung aufgelegter Hochglanzkatalog zeigt vollends die Pervertierung menschlicher Allmachtsträume: Er gleicht dem Hochglanzkatalog aus einer orthopädischen Praxis, die mit innovativen Operationsmethoden und Heilsversprechen neue Geldquellen erschließen will. „Cartilago cnidaria“ (knöcherne Quallen) so der Ausstellungstitel, ist damit nicht nur Ausdruck eines Widerspruchs in sich, sondern auch ein Impuls, die in vielfältigen Ausdrucksformen gegenwärtige Hybris kritisch zu überprüfen.

Die Ausstellung ist zu den Öffnungszeiten des Landratsamtes Traunstein, Montag bis Donnerstag von 8 bis 12 Uhr sowie Montag bis Freitag von 13.30 bis 16 Uhr zu sehen. Einen Ausstellungsrundgang mit den Künstlern gibt es am 27. Juli um 18.30 Uhr.

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