Rosenheim – Dass Otfried Preußler mit über 50 Millionen verkauften Büchern einer der erfolgreichsten und beliebtesten (Kinderbuch-) Autoren ist, wissen die Rosenheimer schon deshalb, weil Preußler als Lehrer zuerst in Rosenheim und dann in Stephanskirchen gewirkt hat, sodass seine Schule heute nach ihm benannt ist. Dass Preußler aber schon viel früher zu schreiben begonnen hat, wissen weniger.
Über Krieg und Lager schwieg der Autor
Und seine Kriegserlebnisse und Erfahrungen in russischer Kriegsgefangenschaft kennen die wenigsten, weil Preußler darüber nichts veröffentlicht hat. Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel hat nun diese frühen Jahre in einem gewichtigen Buch beschrieben. Dabei hat er Dokumente gefunden, die im Russischen Militärarchiv in Moskau liegen. 560 Seiten hat dieses Buch, Otfried Preußler kommt erst auf Seite 379 nach Rosenheim, am 23. Juni 1949. In einem Brief erzählt er davon: „Aus dem Durchgangslager Hof-Moschendorf hatten wir telegrafieren können. ‚Ankomme Rosenheim morgen 18.58 Uhr.‘ Mein Mädchen erwartete mich am Bahnsteig. Sie trug ein Dirndlkleid, das ich noch von zu Hause kannte, das einzige Kleidungsstück, das ihr von damals verblieben war.
Freundin nach
Bayern geflohen
Sie hatte es angezogen, damit ich sie dran erkennen sollte. (…) Ich hätte sie aber gleichwohl erkannt, auch in jedem anderen Kleid. Selbst dann, wenn nicht fünf, sondern fünfzig Jahre dazwischen gelegen hätten, das weiß ich so sicher wie meinen Namen.“
Sein „Mädchen“, seine Verlobte Annelies Kind, war nach der Vertreibung aus der sudetendeutschen Heimat in Stephanskirchen gelandet, wo ihr Vater eine Stellung in der Süßwarenfirma Pit in Haidholzen hatte. Über eine Suchanfrage über das Rote Kreuz hatte Anneliese Kind herausgefunden, in welchem Lager Otfried war. Bei seiner Entlassung hatte er also als Zielort Rosenheim angegeben. Im Lager hatte er einen Mitgefangenen aus Rosenheim, den Krinninger Franz, gefragt, wo Rosenheim liege und wie es dort sei. Der ritzte in den Boden eine Karte mit der Lage Rosenheims und erzählte: „Rosenheim liegt am Inn. Übrigens gar kein schlechter Platz. Nah am Gebirge, da lässt sich’s wandern und skilaufen. Und im Sommer, da gibt’s Seen ganz in der Nähe.“
Gansel berichtet dann, wie es weiterging. Preußler bekommt zuerst auch Arbeit bei Pit, wird dann aber 1950 arbeitslos und schlägt sich als „radelnder Reporter“ für das Oberbayerische Volksblatt durch, Zeilenhonorar damals acht Pfennige. Er schreibt für den Kinderfunk des Süddeutschen und Bayerischen Rundfunks, während sein „Mädchen“, das er mittlerweile geheiratet hat, „als Hilfsarbeiterin in einer Zuckerfabrik mitverdient, weil sie in ihrem eigentlichen Beruf – sie ist Kindergärtnerin – als Protestantin in Oberbayern nicht ankommen konnte.“
Schließlich besucht Preußler 1951 bis 1953 die Lehrerbildungsanstalt in Pasing, tritt nach erfolgreichem Examen am 1. April 1953 seine erste Stelle als Lehramtsanwärter an der Evangelischen Volksschule in Rosenheim an, wird am 1. März 1954 Hilfslehrer mit einem Gehalt von 220 Mark netto, wobei er sich 100 Mark als Schriftsteller dazuverdient.
Größere Wohnung
in Schloßberg
Im Herbst 1954 bekommt Preußler in Schloßberg eine größere Wohnung für seine mittlerweile fünfköpfige Familie, nämlich zwei Zimmer, Küche und Bad und ein kleines Arbeitszimmer und kann sich schließlich 1960 ein Haus bauen.
Nebenbei ist er als Schriftsteller außerordentlich fleißig, akribisch führt er Buch darüber, seine Liste von 1950 bis 1952 hat zehn Seiten und verzeichnet über 150 Publikationen. 1953 hat sein Theaterstück „Mensch Nr. 2301“ in Castrop-Rauxel Premiere und bekommt den zweiten Preis beim Wettbewerb „Junge Dramatik“ des Adalbert-Stifter-Vereins, 1956 erscheint „Der kleine Wassermann“, 1957 „Die kleine Hexe“ und 1958 „Bei uns in Schilda“ – nur für „Krabat“ braucht er länger, bis 1971, erleidet dazwischen eine Schreibblockade und zeigt psychosomatische Reaktionen: Gansel benennt schon die vorher geschriebenen Bücher als „Versuche einer Wundbehandlung“ und interpretiert die Schreibblockade als „Vermeidungsverhalten“, weil die unterdrückten Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft ans Tageslicht wollen.
„Mit dem ‚Krabat‘ erfolgt eine ‚therapeutische Traumabewältigung‘“, meint Gansel, weil Preußler es schaffe, „die traumatischen Erlebnisse an der Front und im Lager in eine romanhafte Form zu überführen.“
Belegen möchte Gansel dies, indem er die nicht veröffentlichten autobiografischen Werke Preußlers ausführlichst auswertet, in denen dieser vom Krieg schreibt. So legt Preußler in „Bessarabischer Sommer“ dar, wie er als 21-jähriger Leutnant in Rumänien in Gefangenschaft gerät. Über die Gefangenschaft schreibt er: „Die verlorenen Jahre?“ Das Fragezeichen dabei zeigt, dass die fünf Jahre in der Gefangenschaft für Otfried Preußler nicht unbedingt „verlorene Jahre“ gewesen sind.
Lagerzeitschriften
und Theaterstücke
Preußler übersteht sie, weil er wichtige Freunde findet und weil er da zum Schriftsteller wird. Er schreibt und zeichnet mit an den Lagerzeitschriften in Form von Plakatzeitungen und verfasst Theaterstücke, die im Gefangenenlager auch aufgeführt werden. Weiter schreibt er formvollendet Gedichte, die, vielfach abgeschrieben, in vielen russischen Lagern zirkulieren. Sie sind laut Gansel „Versuche, die Ausnahmesituation der Gefangenschaft zu bewältigen“.
Kinder sollen
sich im Lachen üben
Viele davon zitiert Gansel in diesem Buch. „Meine Universitäten waren Lager“, konstatiert Otfried Preußler. Und weiter: „Wer lachen kann, und sei es über sich selbst, wird mit bedrohlichen Zeitläuften ungleich besser fertig, als wenn er sich ständig nur bemitleidet. (…) Nicht zuletzt deshalb versuche ich mit vielen meiner Geschichten, Kindern möglichst früh Gelegenheit zu geben, sich im Lachen zu üben.“
Dafür sind ihm viele Generationen von Kindern und Eltern dankbar.
Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre. Galiani Verlag, Berlin 2022, 559 S., zahlreiche Abbildungen, 28 Euro