Musik wie ein Schaben an Seelenwänden

von Redaktion

Münchener Kammerorchester spielt auf Herrenchiemsee Musik von Beethoven, Mozart und Weinberg

Herrenchiemsee – Es war wohl das allerletzte der letzten Konzerte des Münchner Kammerorchesters, die ihr langjähriger Dirigent Clemens Schuldt leitete – mit einem Elan, als ob es eines seiner ersten wäre, und zugleich mit einer gegenseitigen Selbstgewissheit, die das Ergebnis von sechs Jahren Zusammenarbeit ist. Eine der Konstanten dieser Zusammenarbeit ist auch die immer außergewöhnliche Programmauswahl. Beethoven stand ja schon fest, weil die Herrenchiemsee Festspiele das Programm von vor der Pandemie hatten, als das Beethoven-Jahr war: Die fünfte Symphonie schleuderte Schuldt noch in den Begrüßungsapplaus hinein, ließ alles rhythmisch messerscharf mit harschen Bläserklängen: alles etwas aufgeraut und vor allem vollkommen unpathetisch musizieren. Liebevoll ausgeformt und mit bebendem Leben erfüllt waren die Phrasen im Andante mit seinen Variationen. Sehr rasch nahm Schuldt das Scherzo, sodass die Kontrabass-Stelle ziemlich rumorig daherkam, der berühmte Übergang zum Jubel-Finale war nicht gespenstig, sondern gespannt. Dieses Finale nun wollte Schuldt wohl nicht als „Apotheose einer politisch intendierten Musik verstehen“ (so der Musikwissenschaftler Dietmar Holland), sondern eher als Jubel-Tanz, mehr überschwänglich, vor allem in den freudetirilierenden Flöten, als siegessicher-glorios: Fast hörte es sich an wie ein Vorläufer von Beethovens siebter Symphonie. Die große Jubel-Antwort der Zuhörer bejahte diese Interpretation. Den Beginn machte Mozarts Ouvertüre zu „Don Giovanni“ mit einem drohenden Donnerschlag wie ein Gruß aus der Hölle, in die der Held am Ende auch verschwindet, mit darauffolgendem hochdramatischem Gedränge und Geschiebe im Orchester und mit aufheulenden Tonleitern: alles rhythmisch federnd gespannt und in ein grelles Licht getaucht. Im Zentrum aber stand das Werk eines Komponisten, der in den einschlägigen Komponisten-Lexika noch immer sträflich vernachlässigt wird: Mieczyslaw Weinberg (1919 bis 1996), in Warschau geboren, vor den Deutschen nach Minsk geflohen, dann ins usbekische Taschkent, bis er 1943 von Dmitri Schostakowitsch nach Moskau eingeladen wurde, wo er bis zu seinem Tode blieb.

Seine „Kammersymphonie Nr. 4 op. 153 für Klarinette, Triangel und Streichorchester“ stammt aus dem Jahre 1992 und ist Weinbergs letztes Werk – sozusagen sein Vermächtnis. Mit großer Liebe und Hingabe widmeten sich die Musiker diesem Werk, das mit einem großen Spannungsbogen einer Reise durch Seelenzustände gleicht. Es beginnt mit melancholisch zarten Klängen, deren mild dissonante Akkorde sich vor- und ineinanderschieben, aus denen der klagende Klang der Klarinette wächst: Musik wie ein Schaben an Seelenwänden. Clemens Schuldt hebt immer wieder den Schmerz- und Seufzergestus hervor, die Reinheit des Streicherklangs betont die Intensität der Klage. Dann bricht mit schrillen Einwürfen die Klarinette in diese elegische Ruhe und die Streicher produzieren aggressive angstmachende Klänge, die sich wie aus dem Film „Psycho“ anhören: Man meint, der Messermörder komme gleich die Treppe herab. Clemens Schuldt lotet alle Schreckgefühle aus, ohne der bloßen Expressivität zu verfallen.

Nach einem elegischen Zweigesang zwischen Cello und Klarinette heizt sich die Stimmung wieder extrem auf, das Orchester spielt auf der Stuhlkante wie auf dem Messerrücken, schließlich wehen wie aus der Ferne leise Klezmer-Klänge von der Klarinette her, bis der Klarinettist alles mit einem Triangel-Schlag beendet. Ist dieses leis-resignative Pling das letzte Wort eines Komponisten mit einer bedrückenden Biografie? Darüber lässt sich trefflich philosophieren – und das ist das Schöne an dieser nicht bloß schönen Musik.

Rainer W. Janka

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