Fulminanter Solo-Auftritt von gut zwei Stunden

von Redaktion

Vorletzte Folge des „Mann ohne Eigenschaften“ in der Vetternwirtschaft – Annika Semmler brilliert als Clarisse

Rosenheim – Robert Musils Riesenroman ist nicht nur ein Zeitbild des Jahres 1913, sondern auch ein Panoptikum von Menschen unterschiedlichster Couleur, von Ehrgeizlingen, Maulhelden, Nationalisten, Würdenträgern, Hofräten, betörenden Frauen, Mördern und – Irren. Über hundert Personen bevölkern wie auf einem Wimmelbild den Roman. Diesmal, in der 19. Folge des Großprojekts von Valerie Kiendl und Dominik Frank („Regie-als-Faktor“), steht die schillernde Clarisse im Mittelpunkt.

Eine Spinnerin oder eine „übernervöse“, jedoch fantasievolle und sensible Wiener Dame? Sie verachtet ihren Ehemann Walter, möchte ein Kind von dessen Freund Ulrich, dem titelgebenden Romanhelden. Aber: Sie ist die Einzige, die konkrete Vorschläge für die Gestaltung der großdimensioniert geplanten Feier zum 70. Thronjubiläum Kaiser Franz Josephs in petto hat: Die Ausrufung eines „Nietzsche-Jahrs“ und als sichtbare Geste einer k.-und-k.-Humanität die spektakuläre Befreiung oder „Erlösung“ des Frauenmörders Moosbrugger. Dieser sitzt ein in der Irrenanstalt, weil noch geklärt werden muss, ob er schuldig oder im klinischen Sinn nicht bei Verstand ist.

Um die Anstalt inspizieren und Moosbrugger besuchen zu können, benötigt Clarisse die Erlaubnis höherer Stellen. Um diese zu erlangen, versucht sie Freunde und Bekannte zu aktivieren. Ehemann Walter stellt sich quer, aber da wären noch Ulrich, Siegmund, Arzt und Bruder von Clarisse, sowie Meingast, der Philosoph. Doch entsprechend ihres wenig verheißungsvollen Engagements sind sie nur als „Pappkameraden“ anwesend. Die Inszenierung bietet der Würzburger Schauspielerin Annika Semmler einen fulminanten Solo-Auftritt von gut zwei Stunden. Die Rollen der Gesprächspartner übernimmt Clarisse selbst und zieht sie sanft ins Lächerliche: Mit Siegmund meinte Musil Freud, den er hasste samt dessen Psychoanalyse, und hinter Meingast verbirgt sich Rudolf Steiner, dessen geschraubte Suada nur aus diffusen (oder anzüglichen) Redensarten besteht. In klarer, ausdrucksstarker Diktion brachte Annika Semmler die Prosa Musils zum Leuchten. Den Zuhörern wurde der anspruchsvolle Sprachstil des Schriftstellers zum sinnlichen Genuss und erleichterte so das Verständnis. Aber schließlich gelangt Clarisse mit ihrer Entourage doch in die Irrenanstalt. Der Assistenzarzt beachtet bei der Führung minutiös alle Vorsichtsmaßnahmen. Anerkennend bemerkt General Stumm von Bordwehr, der nur in militärischen Kategorien denken kann und damit die „Irren“ als Feinde definiert: „Vorhut, Nachhut, Flankendeckung!“

Musil lässt sich satirisch über die Zustände dieser Anstalten aus. Uns wird – verbal – das ganze Elend der Inhaftierten samt „Schweinereien“ nicht erspart. Clarisse mimt in erstarrter Haltung das Jammerbild der Verrückten. Und natürlich taucht die Frage auf, wer denn zur „normalen“ Menschheit zählt: Besucher oder Bewohner? Clarisse fühlt instinktiv: „Man muss die Kranken ernst nehmen!“ General Stumm von Bordwehr zieht nach diesem Besuch ein pragmatisches Resümee: „Schrecklich muss eine solche Geisteskrankheit sein! In dem Moment fällt mir erst auf, dass ich während der ganzen Zeit, die wir da drin waren, nicht einen Einzigen rauchen gesehn hab! Man weiß wirklich nicht, was man alles voraushat, solange man gesund ist!“ Das Publikum erlebte einen intensiven Abend voll bestürzender Bilder und brillanter Formulierungen. Heftiger Beifall für das Regieteam und die großartige Schauspielerin Annika Semmler.

Walther Prokop

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