Rosenheim – Es ist kaum zu fassen: Das Riesenprojekt „Der Mann ohne Eigenschaften“ war nach dreieinhalb Jahren mit der 20. Folge abgeschlossen. Das Regieteam Valerie Kiendl und Dominik Frank und auch das Publikum verharrten nach Ende der Vorstellung zunächst in einer gerührten Benommenheit: Ende gut, alles gut! Es waren zwar auf den Plätzen Tempo-Taschentücher bereitgelegt worden für etwaige Abschiedstränen. Doch es schwirrten in den Köpfen der großen Fan-Gemeinde zu viele prägnant-eindringliche Bilder, die bei Bier und Wein ausgetauscht werden mussten – es herrschte Party-Laune.
Brüderchen
und Schwesterchen
Es waren vielleicht die letzten Atemzüge eines noch nicht von herbstlicher Tristesse überschatteten Sommerabends.
Valerie Kiendl und Dominik Frank, die 19 Folgen lang am Regietisch saßen und zu Beginn einer Vorstellung mit ihren temperamentvollen Einführungen die Zuhörer einstimmten, ließen es sich nicht nehmen, das Finale selbst aktiv von der Bühne zu gestalten: Ulrich und Agathe als Brüderchen und Schwesterchen. Und wer kümmerte sich dann jetzt um den Einführungsvortrag? Jede Folge sollte ja für sich verständlich sein. Ein besonders reizvoller Gag: Das Eichhörnchen „Raphi“ klärte per Video das Publikum über die kommenden Dinge auf. „Raphi“ ist das Maskottchen von „Regie-als-Faktor“. Es taucht ebenso im Roman auf, weil der Frauenmörder Moosbrugger in seiner Zelle sinniert, warum Eichhörnchen eigentlich Eichhörnchen genannt werden und nicht anders.
Wie kann es gelingen, Musils Riesen-Roman, mit einer „Art Ende“ abzurunden? Es kann natürlich kein endgültiger Schluss werden; auch der Roman blieb unvollendet. So war es logisch, nach etlichen satirischen Folgen etwas ganz Neues in den Mittelpunkt zu rücken, etwas im wahrsten Sinn Unerhörtes: die Liebe von Ulrich und Agathe, die gefährlich am Rande des Inzests entlang schrammt. Musil hat natürlich mit reißerischen Tabubrüchen nichts am Hut, die beiden Schauspieler setzten seine elegant-diskrete Prosa in schlüssige Aktionen und Bilder um. Die Geschwister waren seit Kindheit getrennt, sie waren sich fremd, und nun, beim Tod des (ungeliebten) Vaters, treffen sie als Erwachsene wieder zusammen. In endlosen Gesprächen kommen sie einander näher, aus Sympathie wird Liebe. Agathe zweifelt an der Möglichkeit einer „ewigen Liebe“ (sie möchte gerade aus einer unerträglich gewordenen Ehe ausbrechen) und ist bestürzt über die offensichtliche Vergänglichkeit alles Irdischen. „Man geht mit der Zeit um, als stünde sie einem ewig zur Verfügung“. Und die 27-Jährige fühlt, dass ihr „immer noch anmutiger Körper“ bald in die „Schönheit des Nachmittags“ übergehen wird. Und Ulrich sieht Agathe „als Freund und als Frau und weiß nicht mehr jederzeit zwischen Zuneigung und Erregung zu unterscheiden.“ Die zu bewältigende Textmenge tendiert grundsätzlich zum epischen Theater. Dennoch schaffen es Valerie Kiendl und Dominik Frank, mit Elan einen quirligen verbalen Schlagabtausch zu entfachen. Beide Schauspieler sind erfolgreich um ein Finale furioso bemüht. Die zuweilen sich ins Ekstatische steigernde Sprache beschleunigt ihr Sprech-Tempo und plötzlich funkt wieder eine blitzende Replik dazwischen, die die Zuschauer zum Lachen animiert.
Ein neues
Projekt für 2023
Das Kapitel „Atemzüge eines Sommertags“ lag am Tag von Musils Tod offen auf seinem Schreibtisch. Die Geschwister liegen auf der Wiese hinterm Haus entspannt plaudernd. Agathe fühlt sich „in einer Art entrückten Zustands inmitten fliegender Blüten.“ Der Sommertag erzeugt eine traumhafte Atmosphäre, der sich Agathe und Ulrich willenlos hingeben. Das Publikum scheint ähnlich empfunden zu haben – nach dem lang anhaltenden Applaus blieb man sitzen und genoss den herrlichen Sommerabend im Freigelände der Vetternwirtschaft. Tränen? Nein, es wurde für Februar 2023 ein neues Projekt in Aussicht gestellt. Wir freuen uns drauf!