Wasserburg – „Absurd“ leuchtet zwar auf dem Spruchband über der Kasse im Wasserburger Belacqua, doch so absurd ist die Tanzperformance des Künstlerkollektivs „Visitors“, das den Abschluss des fünfmonatigen Projekts „Tanz mal fünf“ darstellt, wahrlich nicht. Gefördert vom Sonderfonds DIS-TANZEN geht es bei „On her shoulders“ um die Gedankenwelt einer Supermarktkassiererin, die unsichtbar für König Kunde im monotonen Fließbandrhythmus malocht und einen Crash zwischen Außen- und Innenwelt herbei tanzt. Wobei die immer wieder auftauchende Sängerin den Gegenentwurf stimmstark in den Raum stellt: Mach, was Du willst, ist ihre Botschaft, und so befreien sich die sechs Tänzerinnen im Laufe des Abends zunehmend aus starren Bewegungs-Schematas.
Anfangs schaufeln sie breit in der Grätsche stehend mit den Händen in Fließband-Manier imaginär vor sich Liegendes unter dem Beckenboden durch. Sie treten auf als sich ständig in Reih und Glied formierende und gegeneinander verschiebende Reihen, ein exakter Formationstanz.
Den stärksten Eindruck hinterlässt eine endlose Kette, bei der die Tänzerinnen sich kurz erheben, den Arm strecken, ihn in 45-Grad-Winkel halten, um dann in 90-Grad-Beugung ihre Hand jeweils auf die Schulter der vor ihnen Tanzenden zu legen. Der Musik folgt dann der tänzerische Ausbruch. Das Zackige wird aufgelöst in weich fließende Bewegungen, in Pirouetten mit denen der Chor der Kassiererinnen über die Bühne fegt und die beiden weißen Haufen von Kassenbons rundum aufwirbelt, sodass sie wie weiland in Tschechows Kirschgarten die Kirschblüten herabrieseln und ein Chaos hinterlassen. Wobei Tschechow natürlich schon mehr wusste, dass nämlich die hier in der Performance viel beschworene Liebe auch nicht hilft. Doch andererseits darf man die Hoffnung darauf nicht aufgeben…
Weichheit gegen Härte zu setzen gelingt den Tänzerinnen bemerkenswert gut. Selten sieht man so beredte Hände, die sich wie sanfte Wellen ausbreiten können, wobei selbst einzelne Finger zart und einfühlsam ein Eigenleben führen und die zupackende Arbeitswelt verlassen. Dass das natürlich nur eine Utopie sein kann, versteht sich. Das Gewusel der Kassiererinnen bewegt sich mit einer Mittelfigur buchstäblich Hals über Kopf im Handstand über die Bühne, bis am Ende die Losgelassenen die in der Mitte stehende Sängerin umkreisen. Sie liegen auf dem Boden der Tatsachen, aber sie rollen noch.
Das Gebotene war auch optisch ein Hochgenuss: denn im blauen Licht strahlen die rot phosphoriszierenden Spinngewebe um das rechte Handgelenk, aber auch um Brustkorb, Rücken und Beine wie enigmatische Zeichen, Hoffnungsträger in einer ansonsten grau-schwarze Welt.
Starke Bilder, auch wenn man von der passenderweise auf einer Kassenrolle gedruckten Programmzettel-Anweisung nichts direkt gesehen hat. Aber das sind Interpretationsangebote, um die Zuschauer-Fantasie in Gang zu setzen und die Abstraktion zu erden. Und das hat vorzüglich funktioniert. Das Publikum war begeistert von dieser von Hip-Hop und Modern Dance inspirierten Performance.
Finja Kelpe, von der die Konzeption stammt und sie zusammen mit Arianna di Palma choreografiert hat, durfte sich über den herzlichen Applaus ebenso freuen wie Sängerin Carolina Walker und die Mit-Tänzerinnen Chiara Martorana, Marie Höhne, Roosa Sofia Nirhamo, Vanessa Wüthrich und Julia Sikell Ahmet.
Ute Fischbach-Kirchgraber