Rosenheim – „Ich hab keine Wahl, denn sie hat mich, ganz egal wo ich bin…“, so heißt es im Song von Anna Depenbusch über Heimat. Heimat, ein Begriff, der auch Kara Kemeny sehr beschäftigt. 2020 wurde die junge Sängerin mit dem Kulturförderpreis ihrer Heimatstadt Rosenheim ausgezeichnet, nach eigenen Angaben eine große Ehre für die Musical-Darstellerin, und in Zeiten der Corona-Pandemie ein Zeichen dafür, dass gerade die darstellenden Künste wichtig für die Gesellschaft sind, dass die Show weitergehen muss und wird.
Nun hat Kara Kemeny an der Seite des Pianisten Alan Sokol in der Musikschule Rosenheim ihr erstes Soloprogramm präsentiert, das den Titel „Heimat“ trägt. Im Laufe des Abends beweist sie nicht nur ihr gigantisches Stimmvolumen, sondern auch den Facettenreichtum dieses Begriffs. Sie nimmt das Publikum mit auf eine Reise zu ihren künstlerischen Anfängen in der Musikschule Rosenheim, in den Sommerurlaub nach Ohio, woher ihre Familie stammt und das sie liebevoll als „das Bayern Amerikas“ bezeichnet, aber auch zu dem inneren Konflikt, zwischen zwei Kulturen zu stehen. Mit „Mad Hatter“ aus „Wonderland“ gelingt ihr ein fulminanter Anfang, der vom ersten Ton an in seinen Bann zieht. In „Someone To Watch Over Me“ nimmt ihre Stimme jazzig-warme Klänge an. Kara Kemeny beschreibt die Stückauswahl als „Kontrastprogramm“. Spritzige Nummern wie „Ein Sommer in Ohio“ aus „Die letzten fünf Jahre“ oder „Part Of Your World“ aus „Arielle, die Meerjungfrau“ wechseln sich ab mit dem tiefsten Schmerz in „I Dreamed A Dream“ aus „Les Misérables“, „Wenn ich dich anseh´“ aus „The Scarlet Pimpernel“, und „Kommando Untergang“ von Anna Depenbusch. Die Gefühle sind nie aufgesetzt, sie treffen mitten ins Herz. Echte Tränen stehen in den Augen der Darstellerin, Gänsehaut garantiert. Das ist mehr als schöner Gesang, das ist aufrichtige Kunst, die einen ergreift und nicht mehr loslässt. Die Stimme scheint genauso in Powerhouse-Nummern wie „Der Zauberer und ich“ aus „Wicked“ zu Hause zu sein wie im lyrischen Repertoire („Draußen, im Grünen Irgendwo“ aus „Der kleine Horrorladen“). Ein unbestrittener Höhepunkt des Abends ist „Ruhig“ aus „In the Heights“, dem ersten Broadway-Musical Lin Manuel Mirandas, aus dessen Feder auch „Hamilton“ stammt. Kara Kemeny spielte die Rolle der Nina selbst bereits am Theater Hagen, eine Figur, mit der sie sich sehr verbunden fühlt. Die pure Emotion, die psychologische Tiefe und Komplexität, die von ihrer Darstellung ausgehen, überwältigen. Passenderweise endet das Programm mit „Heimat“ von Anna Depenbusch. Kara Kemeny ermutigt die Zuschauer, darüber nachzudenken, was Heimat für sie selbst bedeutet. Mehr Toleranz, Freundlichkeit und Liebe in der Welt, „das ist mein Weihnachtswunsch“.
Der Applaus hält so lange an, dass nicht nur eine, sondern gleich zwei Zugaben folgen, „I’ll Be Home For Christmas“ („Sie glauben doch nicht, dass ich Sie ohne ein Weihnachtslied gehen lasse!“) und „Astonishing“ aus der Musicaladaption von „Little Women“.
Kara Kemenys Stimme ist groß. Ein flexibler Mezzosopran, in allen Registern perfekt gesteuert. Eine gesangliche Wucht, die sich in den richtigen Momenten zurückzuhalten weiß und somit ein perfektes technisches und emotionales Gleichgewicht erzeugt. Die Sängerin zeigt nicht nur ihr Ausnahmetalent und ihre enorme musikalische Bandbreite, sondern erlaubt uns auch einen Blick in ihre Seele. Kompetent, souverän und einfühlsam begleitet wird Kemeny von Alan Sokol am Flügel, die beiden sind ein eingespieltes Team. Dieser großartige und beeindruckende Abend ist das Produkt der wertschätzenden Zusammenarbeit zweier virtuoser Künstler. Rosenheim kann sich glücklich schätzen. antonia kuhn