Ganz knapp ist der Titel dieser Biografie: „Ruth“. Es ist die Geschichte von Ruth Menzel, die typische Geschichte eines Frauenlebens im 20. Jahrhundert vom gutbürgerlichen Elternhaus über die Schrecken des Krieges, die abenteuerliche Flucht bis zum Neuaufbau nach dem Krieg in der Wirtschaftswunderzeit und Wohlstand im Alter. Aufgezeichnet hat diese Lebensgeschichte die Tochter: Dr. Karin Oechslein, ehemals Lehrerin, Schulleiterin in Oberhaching, Ministerialbeauftragte für Oberbayern-West und schließlich Direktorin des Bayerischen Instituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB).
„Ich bin eisern“, lautete die Selbstbeschreibung, die die alte Ruth im Wohnstift in Roth von sich gibt. Ihr Lebensmotto: „Man soll die Hoffnung nie aufgeben und immer positiv denken!“ Durchhalten und Optimismus prägte ihr Leben. Geboren ist sie 1922 in Freiberg/Sachsen als Tochter des technischen Direktors einer Kunststofffabrik und aufgewachsen in Radebeul bei Dresden. 1941 macht sie, mitten im Krieg, ihr Abitur. Beim BDM, dem Bund Deutscher Mädel, machte sie pflichtgemäß, aber nicht begeistert, mit, vom Holocaust wusste sie nichts: „Das Schicksal der Juden erfuhren wir erst nach dem Krieg.“ Das wird im Buch nicht weiter verfolgt.
Kurz nach dem Abitur wird sie in eine arrangierte Ehe mit einem Wehrmachtsoffizier gedrängt: „Ich bin in diese Ehe hineingestolpert, völlig naiv.“ Doch zwei Jahre später ist sie schon Witwe: Ihr Mann ist in Russland gefallen. Jetzt entscheidet Ruth sich, Medizin zu studieren. Im Krieg bekommt sie unfreiwillig viel Praxis, muss Abstriche bei Prostituierten nehmen und in einer Abtreibungsklinik arbeiten. Völlig absurd: Als Medizinerin, die Leben retten sollte, muss sie schießen, also töten, lernen.
Als Krankenschwester erlebt sie die furchtbare Dresdner Bombennacht im Februar 1945, allerdings vom sicheren Radebeul aus. Ruth muss in die Klinik und Brand- und Splitterwunden behandeln. Sie hört grauenvolle Geschichten von Menschen, „die bis zur Brotgröße verbrannt waren.“
Dann trifft sie einen Bekannten wieder, der jetzt Oberleutnant ist, und verliebt sich in ihn: Erich Menzel. Aber zunächst muss Ruths Familie vor den heranrückenden Russen fliehen, immer in Angst vor Vergewaltigungen. Es geht nach Göppingen, wo der Vater eine Zweigstelle der sächsischen Fabrik leitet. Mit dem Medizinstudium ist es aus, Ruth arbeitet als Sekretärin, und dann kommt Erich aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück. Schnell wird geheiratet. Farbig erzählt Ruth vom Leben nach dem Kriegsende mit den Sorgen um Essen und Wohnen, kürzer dann von den „unglaublichen Zeiten des Wirtschaftswunders“. Das Paar bekommt drei Kinder, aber die familiäre Arbeitsteilung ist zeittypisch: „Wenn Erich von der Arbeit kam, war er immer sehr erschöpft und legte sich aufs Sofa, ich brachte ihm die Hausschuhe und eine warme Jacke.“
Ruth verschweigt aber nicht die Kriegstraumata, die ihren Erich quälen, nämlich Flug- und Platzangst, und auch nicht die familiären Konflikte: „Unter jedem Dach ein Ach.“ Insgesamt aber ist Ruth am Ende dankbar für ihr Leben, das in diesem Buch mit einzelnen Familienfotos sehr lebendig erzählt ist. Mit 95 Jahren stirbt sie friedlich.
RAINER W. JANKA