Grenzerfahrungen des Sehens

von Redaktion

Konzeptkünstler Helmut Mühlbacher stellt in Ruhpolding aus

Ruhpolding – Der Frühling ist scheinbar längst eingezogen in der Galerie Kaysser in Ruhpolding. Man könnte meinen, im Blumengeschäft gelandet zu sein. Pflanztöpfe mit roten, weißen und gelben Blüten reißen den flüchtigen Passanten vor den Schaufenstern zu Ausrufen wie „Ach wie schön!“ hin. Doch hinter der vermeintlichen Idylle lauert Bedrohliches. Es lohnt sich, genauer heranzutreten und hinzuschauen. Blumen? Die Objekte sind angemalte Fliegenklatschen aus Kunststoff. Sie sind Teil einer Installation des Künstlers und Landschaftsarchitekten Helmut Mühlbacher.

Reiz der
Mehrdeutigkeit

„Unter dem Arbeitsbegriff ,Feldforschung‘ beschäftigt mich das Thema schon lange“, erläutert der Traunsteiner. Es ist die Mehrdeutigkeit, die ihn reizt. Geht es um Befreiungsschläge gegen lästige Insekten, einen Verweis auf das Artensterben, die lebensbedrohliche Plastik-Vermüllung des Planeten oder gar um „Totschlagargumente“ in Diskussionen über heikle Themen? Erst auf den zweiten oder dritten Blick wird klar, dass hinter der scheinbaren Idylle auch der Tod lauern kann.

Möglicherweise sind es die beiden beruflichen Pole, aus denen die kreative Spannung erwächst, mit denen Mühlbacher scheinbar festgefügte Gewissheiten infrage stellt. Mit denen er dem Verhältnis von Mensch und Natur auf den Grund geht, Tiefenebenen von Begriffen und Themen ausleuchtet oder das Kunstschaffen selbst zur körperlich-geistig fordernden Selbsterfahrung werden lässt.

So schloss er an die Ausbildung zum Landschaftsarchitekten in Weihenstephan ein Studium in der Bildhauer- und Konzeptkunstklasse an der Akademie der Bildenden Künste in München an. Seit der Jahrtausendwende folgten daraus eine Vielzahl von Ausstellungen, Projekten im öffentlichen Raum, Kunst-Interventionen und Installationen. In Ruhpolding lässt er die Galerieräume unter dem mehrdeutigen Motto „Von Wegen…“ zum Wahrnehmungslabor für Sinne und Intellekt werden.

Der Titel deutet an, dass etwas anders ist, als es zunächst den Anschein hat oder dargestellt wird. Er kann auch ein Ausdruck der Unzufriedenheit sein, wenn die Realität von den Erwartungen abweicht oder auf die Routen hindeuten, die jemand physisch zu Fuß zurücklegt, sowie auf Karriere- oder Entwicklungspfade.

Beispielhaft nachzuvollziehen ist das auf den großformatigen Papierarbeiten an der Wand. „Wohin werden wir gegangen sein?“, nennt sich der beinah meditativ anmutende Werkzyklus, in dessen kleinteiligen Schrittmustern der Konzeptkünstler Mühlbacher gesellschaftskritische Fragen aufgreift. Die Arbeiten machen auch den physisch anstrengenden Prozess deutlich, in dem Kunst entstehen kann, die unter die Haut geht.

Mit Miniaturstempeln und Stempelkissen arbeitet er sich wortwörtlich Schritt für Schritt auf einem ein Quadratmeter großen Papierbogen vor, bis die Summe unzähliger Fußspuren und Schritte mehrdeutige gesellschaftliche Beziehungsmuster erkennen lässt. Thematisiert werden die politische und kommerzielle Besetzung des öffentlichen Raums, Botschaften und Beziehungsmuster in der Öffentlichkeit sowie Konformität und Individualität.

Oder auch die Abgründe, in die man zuweilen blickt. Die Druckwerke rufen die 24-Stunden-Performance „…and you“ von 2017 in Erinnerung. Bei ihr lief Mühlbacher im Traunsteiner Stadtpark im Kreis und diskutierte mit Passanten über Kunst und Gesellschaft. Mit der Bemessung, Bepreisung und Kontrolle der Natur setzt sich Mühlbacher in der Arbeit „Naturliebe“ auseinander. Die in Ruhpolding ausgestellte Arbeit zeigt eine mit Blattgold überzogene Platte auf einem Einkaufswagen mit einer täuschend echt simulierten Rasenfläche aus Tausenden grün lackierten Zahnstochern. Richtungslos umherflatternde Schmetterling-Schemen und Würmer im Gras sorgen für Unbehagen. Was ist hier im Gange?

Keine eindeutige
Interpretation

Mühlbachers Werke entziehen sich eindeutigen Interpretationen. Durch Verfremdung und Verdichtung, der Isolation aus gewohnten Kontexten, serieller Vervielfältigung oder der Veränderung des Maßstabs schafft er neue Perspektiven und Sinnzusammenhänge.

Wann und wo?

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