Europas Boogie-Piano-Elite im Ballhaus

von Redaktion

International bekannte Stars der Szene gestalten sechsstündiges Konzert

Rosenheim – Berichten zufolge führten die beiden „From Spirituals to Swing“-Konzerte 1938 und 1939 in der Carnegie Hall in New York beim anwesenden Publikum zu einer derart euphorischen Stimmung, dass einzelne Gäste aufgefordert werden mussten, wieder von den Kronleuchtern herunterzuklettern. Zwar erklommen die Gäste des 1st European Boogie Woogie Masters im Ballhaus nicht den Kronleuchter des Stucksaals, doch spätestens, als der französische Pianist Ben Toury kopfüber spielte, konnte man die ekstatische Stimmung, die damals in der Carnegie Hall geherrscht haben muss, ebenfalls spüren.

Internationales
Fachpublikum

Schon zu Beginn der Veranstaltung, die insgesamt knapp über sechs Stunden dauerte, unterhielt sich das fachkundige Publikum, das unter anderem aus Patagonien, Italien und Frankreich angereist war, über ihre jeweiligen Favoriten.

Der deutsche Pianist Daniel Paterok eröffnete den Abend mit einem klassischen Blues und spielte darauffolgend den ersten Boogie, eine ungewöhnliche, funkangehauchte Komposition in Moll, die ihm beim Kochen währen der Corona-Zeit eingefallen sei, wie Paterok beschwingt erzählte. Daher rührt auch der Titel der Komposition: „Stampfkartoffeln“.

Unterstützt wurde Paterok von Ernst Techel, der an der Musikschule in Kolbermoor unterrichtet, am Kontrabass und von Hermann Roth am Schlagzeug. Die beiden Musiker aus der Region begleiteten die Boogie- und Blues- Pianisten immer wieder im Laufe des Abends. Weiter ging es mit einer spannenden Interpretation des „Swanee River Boogie“ und einem Stride-Piano-Stück von Thomas Fats Waller.

„Ne schnelle
Nummer“

Der zweite Interpret des Abends, Stefan Ulbricht, begeisterte das Publikum zuerst mit der Eigenkomposition „Tribute To Floyd Cramer“ und zeigte dann mit seiner Interpretation des „Honky Tonk Train Blues“, komponiert von Meade ‚Lux‘ Lewis 1927, die in ein virtuoses Cover von Elvis Presleys „Burning Love“ überging, seine Fähigkeiten am Klavier. Das Stück „Ne schnelle Nummer“ (Eigenkomposition) fesselte die Zuschauer durch seine unglaubliche Geschwindigkeit, ein Markenzeichen Ulbrichts. Seine Darbietung des Stücks „You never can tell“ von Chuck Berry gab schließlich den Boogie-Woogie-Tanzweltmeistern Oliver und Patrizia Fritsche aus München die Chance, ihr Können zu zeigen.

Als nächster Pianist stand Ben Toury aus Frankreich auf der Bühne. Er eröffnete das erste Stück mit einer Mundharmonika-Bluesmelodie. Darauf folgte eine grandiose Rock-‘n‘-Roll-Version von „Low Down Dog“ von Big Joe Turner, bevor Toury wieder zum Blues zurückfand und eine langsame Melodie mit Anklängen aus dem Soul darbot. Zum Ende hin präsentierte er noch einen klassischen Boogie-Woogie am Klavier. Zwischen zahlreichen verschiedenen Variationen und Improvisationen, die zwischendurch die Anfangstakte des ewigen Partisanenlieds „Bella Ciao“ beinhalteten, teilweise nur mit den Zeigefingern oder den Handkanten oder kopfüber auf der Klavierbank liegend gespielt wurden, fand Toury immer wieder in den stampfenden Rhythmus des Boogie-Woogie hinein und beendete auf der Klavierbank stehend seinen explosiven Auftritt bei tosendem Applaus.

Der mehrfach ausgezeichnete Schweizer Pianist Chris Conz begeisterte mit seiner jazzigen Interpretation des Boogie-Woogie. „Just for you“ von Pete Johnson bildete den Auftakt und wurde vom Jazzstandard „On the Sunny Side of the Street“ abgelöst. Wo Ben Toury das euphorisch aufgelöste Publikum verlassen hatte, nahm Chris Conz die Zuschauer nun sanft bei der Hand. Zuletzt bat aber auch Conz zum Tanz, als er Armstrongs Evergreen, den „St. Louis Blues“, fulminant interpretierte.

Der niederländische Pianist Martijn Schok setzte sich als Nächster an den Flügel. Schok begann mit einem „Twelfth Street Boogie“ von 1914. Mit „Down South“ hörten die Zuhörer ein Boogie-Woogie-Stück, das in Holland populär ist. Schoks Interpretation von „Hang on Sloopy“ begeisterte als Groove mit Cha-Cha-Cha-Rhythmen die Zuhörer. Zum Schluss kam die niederländische Sängerin Greta Holtrop auf die Bühne, die stimmlich an Billie Holiday und Dina Washington erinnerte und zu Schoks Klavierspiel die Stücke „Fine and Mellow“ und „Let the good times roll“ sang.

Als Nächster betrat der Blues- und Boogie-Piano- Shooting-Star Luca Sestak die Bühne. Sestak, der gerne verschiedene Genres miteinander kombiniert, erklärte, er finde momentan seinen Weg zurück zur Klassik. Sowohl seine eigenen Kompositionen als auch das Cover „Lonely Avenue“ von Ray Charles waren gespickt mit Anleihen aus der Klassik, was zu einem ganz eigenen unverwechselbaren Sound führte.

Jörg Hegemann fesselte das Publikum gleich zu Beginn mit seiner Version des Stücks „Shout for joy“ von Albert Ammons. Hegemanns Spiel orientiert sich an dem Chicago Boogie-Woogie der 30er- und 40er-Jahre. Er gilt in der Szene als einer der Bewahrer des authentischen Boogie-Woogie-Stils. In seinem Stück „Meade and Al in Mind“ kombiniert er die Stile der beiden Gründungsmeister des Boogie-Woogie, Meade Lux Lewis und Albert Ammons. Gemeinsam mit dem Münchner Sänger Thomas Aufermann spielte Hegemann außerdem das Stück „Cherry Red“ des großen Boogie-Shouter Big Joe Turner und versetzte das Publikum damit endgültig in das brodelnde Chicago der 30er- Jahre.

Auf das Feeling
kommt es an

Auch der Österreicher Hannes Otahal hat sich dem klassischen Boogie-Woogie-Piano verschrieben. Mit seiner traditionellen weicheren Spielweise brillierte er mit den Stücken „Lone Star Boogie“ von Vince Weber und einem Cover von „Rock House“ von Ray Charles. Neben seiner Präzision am Klavier besitzt Otahal ein ähnlich gutes Gespür für Komik, das eine erfrischende Abwechslung bot. Auf die Frage, was sich geändert habe seit seiner Jugend, antwortete er recht trocken: „Alles.“ Außerdem habe ihm die Konservatoriumsmühle aus Beethoven, Chopin und Liszt, durch die er bei seinem Studium musste, wenig gebracht. „Boogie lebt vom Feeling, nicht von der Technik“, erklärte er im Interview mit Norbert Haimerl.

Als letzter Akt des Abends betrat die Queen of Boogie-Woogie, Ladyva, die Bühne. Im Ballhaus spielte sie unter anderem den „Blues Silvan’s Night Train Trip“. Außerdem präsentierte sie die 2021 erschienene Single „Ladyva’s Stomp“ und ein Cover von Alex Zwingenbergers „Be with me“. Ladyvas Performance des Nancy-Sinatra-Songs „These boots are made for walkin‘“ brachte einige Zuhörer zum Tanzen. Auch der „Lobster Groove“, der afro-kubanische Elemente beinhaltete, die auf Ladyvas zweite Heimat, die Dominikanische Republik, verweisen, sorgte für heitere Stimmung. Schließlich spielte Ladyva zusammen mit ihrem Bruder Pascal Silva, der den Gesangspart übernahm, ein Cover des Rock-’n’-Roll-Gassenhauers „Shake Baby Shake“ von Champion Jack Dupree.

Am Ende wird
gejammt

Am Ende versammelten sich noch einmal alle Künstler auf der Bühne und eine Jam-Session begann. Teilweise je vier Pianisten mit einer Hand an einem Klavier, Lukas Sestak spielte den Kontrabass, Ben Toury saß am Schlagzeug und Greta Holtrop sang: „Let’s do the boogie all night long…“. Veranstalter Henning Hagenbauer und Moderator Norbert Haimerl schwärmten von einer privaten Jam-Session der Künstler in der Nacht davor im „Le Pirate“ am Ludwigsplatz. Man wäre gerne dabei gewesen, vielleicht ist dort ja jemand im Boogierausch auf den Kronleuchter geklettert. Nach diesem Abend hält man die Geschichte aus der Carnegie Hall jedenfalls für möglich…

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