Herrenchiemsee – Einen trefflicheren Namen hätte man nicht wählen können: Mysterien der Renaissance.
Die reinen, glasklaren Stimmen des Vokalensembles LauschWerk, die fünf Komponisten aus der Zeit der Renaissance darboten, dazwischen die einzelnen Sätze der Bach-Partita Nr 2 in d-Moll für Violine solo, die Rebekka Hartmann grandios auf einer Stradivari von 1675 darbot – und das inmitten des gut 1200 Jahre alten Münsters von Frauenchiemsee. Eindrücklicher hätte es kaum sein können. Wo anfangen? Dass drei Künstler – Kent Nagano, Schirmherr der Festspiele und weltweit berühmter Dirigent, dessen ehemaliger Professor Edward Houghton (Emeritus der University of California) und Martin Steidler, seit 2008 künstlerischer Leiter der Audi Jugendchorakademie in Ingolstadt, – sich hier am Dirigentenpult abwechselten? Oder dass der bis zu achtstimmige A-cappella-Gesang des mit bis zu 16 Stimmen besetzten Vokalensembles dynamisch ausdrucksvoll und intonatorisch rein und transparent blieb? Oder dass Rebekka Hartmanns Spiel bei der beinahe intim anmutenden Bachschen Komposition für Solovioline eine tiefe Ruhe ausstrahlte und jeglicher Hektik entbehrte? Da konnten sich die Töne entfalten und doch nahm die atemberaubende Dynamik und erschütternde Tragik gefangen – wunderbar, unbegreiflich, erschütternd, meditativ. Wie überhaupt das ganze Programm. Da spannte sich der Bogen in der auf karolingischen Grundmauern errichteten Kirche von der Renaissance über Bach bis zur Moderne mit einer Uraufführung.
Denn die Vokalmusik des Abends repräsentierte einen Querschnitt des Chigi-Kodex, eines der bedeutendsten Musikmanuskripte aus der Zeit der franko-flämischen Vokalpolyphonie. Renaissance steht in der Musik für den Beginn der Polyphonie, der Vielfalt in Text, Melodien und Harmonien, des Kontrapunktes, aber auch des „neuen“ individuellen Wahrnehmens des Komponisten und des Hörenden. Und all dies bot LauschWerk: Das „sile fragor“ von Loyset Compere (1445-1518) war einerseits dichterisches Gebet an die Gottesmutter Maria, aber auch weltlichen Inhalts mit dem Anruf Bacchus‘, dem Gott des Weines. Aus der Missa „Ma Maitresse“ von Johannes Ockeghem (1420-1497) erklangen das Kyrie und das Gloria – meditativ und ergreifend ob ihrer Klanglandschaften. Drei dicht gewebte Agnus Dei vertonten in der Missa „l’homme arme sexti toni“ von Josquin Deprez (um 1450-1521) die Bitte um Frieden. Von Johannes Regis (1425-1496) erklangen zwei berührend schöne Motetten. Das „Ave rosa speciosa“ ist der Jungfrau Maria gewidmet: Klangliche Farbenvielfalt, da tat der Nachklang der Akkorde in der Kirche sein übriges. Das „Celsitonantis ave gentrix“, das in drei Strophen die Gottesmutter Maria anrief, illustrierte das himmlische („celsi…“) mit hohen Oberstimmen, während die tiefen Register der Unterstimmen einen brillanten Kontrast dazu setzten. Himmlische Heerscharen wetteiferten auch beim „Angeli, Archangeli“ von Heinrich Isaac (1450-1517), das „laudare“ (loben) war Glockengeläut und Gesang zugleich. Polyphonie–selten so vielschichtig und doch so transparent gehört. Vokalklänge der Renaissance mit heiligem Text, dazu das klangschwelgerische Geigensolo. Eine Einladung, 1200 Jahre Geschichte Revue passieren zu lassen, aber mehr noch Einladung, sich spirituell auf die Mysterien der Renaissance einzulassen. Elisabeth Kirchner