„Mein Vater schuf Räume für Fantasie“

von Redaktion

Tochter Susanne Preußler-Bitsch erinnert sich an ihre Kindheit mit Hotzenplotz & Co.

Stephanskirchen – Otfried Preußlers Geschichten haben Generationen von Kindern verzaubert. Heute wäre der Autor aus Stephanskirchen 100 Jahre alt geworden. Seine Tochter Susanne Preußler-Bitsch verwaltet sein literarisches Erbe. Manchmal muss sie ein Veto einlegen. Denn die Figuren ihres Vaters sind noch heute sehr beliebt. Susanne Preußler-Bitsch ahnt, wieso.

Wie haben die Figuren Ihres Vaters Sie durch Ihre Kindheit begleitet?

Die schriftstellerische Arbeit meines Vaters hat mich als Kind wenig interessiert. Aber ich bin mir sicher, dass er an uns Kindern ausprobiert hat, wie seine Figuren ankommen. Beim Wandern, beim Schwammerlsuchen, bei Autofahrten hat er uns immer Geschichten erzählt. Wir Kinder wussten genau, wo der Mühlenweiher ist, in dem der kleine Wassermann wohnt. Die Geschichten meines Vaters haben unsere Fantasie angeregt. Ich bin mir sicher, dass auch seine Rosenheimer Volksschüler den Räuber Hotzenplotz kannten, lange bevor das Buch erschienen ist.

Seine Figuren sind meist keine Helden. Sie setzen dem Bösen Menschlichkeit entgegen. War das seine Botschaft an die Kinder?

Ich denke schon. Er hat in seinen Geschichten Werte wie Respekt, Freundschaft und Mitmenschlichkeit transportiert. Vor allem aber war er ein Meister des Erzählens. Seine Geschichten waren eine Spielwiese für die Fantasie, auf der Kinder sich austoben konnten. Auch ich habe als Kind oft überlegt, was man mit dem Schlüsselbund vom kleinen Gespenst alles anstellen könnte. Oder was die kleine Hexe allein im Wald so alles machen kann.

Haben ihm die Geschenke und Briefe der Kinder mehr bedeutet, als die vielen Preise?

Er hat viele Auszeichnungen bekommen – aber am meisten bedeutet hat ihm ein goldener Marmeladendeckel. Der lag immer auf seinem Schreibtisch. Es war ein normaler Blechdeckel, den ihm Kinder aus Brannenburg als Preis für seine Bücher verliehen hatten. Das hat ihm viel bedeutet.

Ihr Vater hat viel Zeit damit verbracht, Leserbriefe zu beantworten. Oft gab er sich dabei als Räuber Hotzenplotz aus. War das seine liebste Figur?

Am nahsten war ihm immer die Figur, an der er gerade gearbeitet hat. Aber der Räuber Hotzenplotz ist wirklich ein toller Bursche. Er beantwortet auch einige der Mails, die ich bekomme. Irgendwann in den 70ern hat er sogar ein eigenes Briefpapier bekommen. Ein Junge schrieb meinem Vater, er hätte so gerne einen Brief vom Räuber Hotzenplotz. Das hat er natürlich sofort umgesetzt. Seitdem hat der Räuber Briefe in alle Welt verschickt. Hunderte. Und nicht nur an Kinder. Ich erinnere mich, dass meine Eltern einmal zur Buchmesse nach Frankfurt fahren wollten, es aber versäumt hatten, ein Hotel zu buchen. Es war nichts mehr zu kriegen. Dann hat Hotzenplotz das in die Hand genommen und bei den drei größten Hotels der Stadt angefragt – noch am selben Abend hatten sie drei Zimmer.

Am Ende seines Lebens veränderte sich die Arbeit Ihres Vaters. Er verarbeitete in seinen Texten seine Kriegserinnerungen. Hatte er mit Ihnen über die Zeit gesprochen?

Über die Kriegsgefangenschaft hat er mit uns nicht geredet, als wir Kinder waren. Eher über die Vertreibung. Meine beiden Eltern stammen aus Reichenberg in Böhmen, die Familien haben bei der Vertreibung Traumatisches erlebt. Reichenberg war damals eine überwiegend von der deutschen Minderheit bewohnte Stadt. Dort haben sie 1938 gejubelt, als Hitler das Sudetenland annektiert hat. Auch mein damals 15-jähriger Vater dachte, dass er auf der richtigen Seite steht. Später wurde ihm klar, welchem Irrtum er aufgesessen ist. Das hat ihn bis ans Ende seines Lebens beschäftigt. In „Krabat“ hat er das verarbeitet. Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der von finsteren Mächten fasziniert ist – bis er versteht, auf was er sich eingelassen hat. Für meinen Vater war es nicht leicht, das aufzuschreiben, an diesem Buch hat er zehn Jahre gearbeitet. Ich denke, das war seine Art der Verarbeitung.

Wie war es für Sie, seine Texte über die Kriegsgefangenschaft zu lesen?

Das war natürlich sehr ergreifend für mich. Das sind sehr persönliche und reflektierte Texte. Mein Vater hat damals nicht resigniert und ist auch nicht verbittert. Er hat die Erfahrungen genutzt, um nach vorne zu blicken. Um die entstandenen Gräben zu schließen, setzte er sich schon in Zeiten des Kalten Krieges als literarischer Brückenbauer zwischen Ost und West ein.

Sie verwalten sein literarisches Erbe. Müssen Sie oft ein Veto einlegen?

Alles, was mit Otfried Preußler und seinem Werk zu tun hat, läuft über meinen Schreibtisch. Jeder, der aus seinen Figuren Theaterstücke, Hörspiele oder Filme machen möchte, muss mich davon überzeugen. Ich möchte das Authentische seiner Stoffe bewahren und achte darauf, dass sie nicht verwässern. Gleichzeitig ist es natürlich schön, dass sie am Leben gehalten werden. Aber hin und wider muss ich ein Veto einlegen. Zum Beispiel, wenn aus seinem Wanja plötzlich eine weibliche Heldin werden soll. Dagegen wehre ich mich. Mein Credo ist: Wo Preußler draufsteht, muss auch Preußler drin sein.

Wie beliebt sind die Preußler-Figuren heute noch?

Ich denke schon, dass sie heute noch genauso gut funktionieren wie damals. Das liegt an der Art der Geschichten. Die Kinder von heute tragen vielleicht andere Outfits – aber sie haben denselben Optimismus und dieselbe Lebensneugier wie die Kinder früher. Gerade in der heutigen unüberschaubaren digitalen Welt, in der alles vorgefertigt ist, sind diese Geschichten analoge Übungswiesen für die Fantasie. Wie Schonräume, in denen sie ihre Fantasie trainieren können. Die Geschichten erzählen aus der Welt der Kinder. Die kleine Hexe geht nicht gerne zu Fuß und nascht zu viel. Der kleine Wassermann stellt viel Unsinn an, muss aber auch seine Lehren daraus ziehen.

Hat Ihr Vater Ihnen die Liebe zum Geschichtenerzählen vererbt?

Die Liebe zum Geschichtenerzählen hat er uns sicher weitergegeben. Und wir unseren Kindern. Aber ich fühle mich nicht literarisch berufen. Was er mir aber sicher vererbt hat: Er hat meinen Geschmack gebildet im Bezug auf Geschichten. So wie Konditorenkinder wissen, was eine gute Praline ist, weiß ich, was ein gutes Buch ist.

Zu seinem 100. Geburtstag finden in Stephanskirchen schon das ganze Jahr Veranstaltungen statt. Hätte er sich darüber gefreut?

Ja, sicher hätte er sich darüber sehr gefreut. In seiner Gemeinde kannte man ihn, er ist ganz normal durch die Straßen gelaufen, niemand hatte Berührungsängste. Mein Vater war ein sehr geerdeter Mann, ein Menschenfreund ohne Eitelkeit.

Interview: Katrin Woitsch

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