Kolbermoor – Kürzlich las man in der Zeitung, Orgelmusik habe ein spezielles Publikum. Als der Kirchenmusiker und Organist Gerhard Franke zu einer Orgelnacht in der Kolbermoorer Pfarrkirche Hl. Dreifaltigkeit einlud, kamen die „speziellen“ Hörer in erstaunlicher Anzahl. Sie wussten, auf was sie sich einließen, nämlich auf über zwei Stunden Orgelmusik quer durch den musikgeschichtlichen Blumengarten aus Anlass des 150. Geburtstages der hiesigen Königin der Instrumente. Die alte Dame (1873 geboren!) wirkte geradezu jung in ihrer romantisierenden Klangpracht.
Der Hausherr, der auch selbst in die Tasten griff, hatte drei Kollegen eingeladen, um das Riesenprogramm gemeinsam schultern zu können: Christoph Koscielny und Stefan Ludwig, beide aus München, sowie den Traunsteiner Manfred Müller.
Mit allen Wassern der Kunst gewaschen
Vier individuelle Temperamente kamen zusammen, die jedoch mit allen Wassern der musikalischen Kunst gewaschen sind. Auch Organisten sind „spezielle“ Musiker: Während Sänger und Instrumentalisten Bühne oder Podium bevölkern, wirken die Kirchenmusiker verborgen auf der Empore. Aber nun macht’s die Technik möglich, das Spiel auch visuell auf der Leinwand mitzuverfolgen. Ein großes Plus!
Und die Komponisten? Auch sie scheinen einer besonderen Sorte zuzugehören: Meist haben sie ihr Brot orgelspielend verdient und kennen ihr Instrument aus dem Effeff. Einige von ihnen sind heute nur noch dem Eingeweihten bekannt. Ein Vorzug vieler Orgel-Rezitals: Kostbarkeiten von weitgehend vergessenen Komponisten können entdeckt werden. Aktuelle Beispiele wären das „Menuet-Scherzo“ des Belgiers Joseph Jongen, der seinerzeit sogar den begehrten Rompreis erhielt. Eine andere Preziose: Gerhard Franke und Manfred Müller stürzten sich vierhändig in die „Fantasie d-Moll“ von Adolph Friedrich Hesse, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Breslau lebte und wirkte. Nach einigen sehr ruhig fließenden und süß melodiösen Stücken –, Cantilène, Berceuse und Andantino, Letzteres von Denis Bedard, einem kanadischen Zeitgenossen – war der vierhändige Zugriff ins Volle ein wohltuender Kontrast, der die Zuhörer zu spontanem Zwischenbeifall hinriss.
Über Johann Sebastian Bach gibt’s keine Zweifel: Sein „Concerto in G-Dur“ eröffnete mit vollem Werk erfrischend den langen Abend, knapp, geschliffen und einprägsam. Mit zweimal Präludium und Fuge (d-Moll und e-Moll) demonstrierte der Thomaskantor volle Schubkraft, voller Elan, ja Eleganz und keineswegs behäbig! Stefan Ludwig brachte diese geballte Kraft kongenial zum Klingen.
Überraschend wuchtig und klangprächtig auch das Stück des französischen Bach-Zeitgenossen Nicolas Clérambault „Grand Dialogue sur les Grande Jeux“. Die Verwandtschaft zu Johann Sebastian ist frappant.
Christoph Koscielny meisterte drei Werke aus unterschiedlichen stilistischen Welten. Zunächst die ausladende Sonate des Bach-Sohns Carl Philipp Emanuel. Die vielerlei Motive, die gegenseitig übereinander zu purzeln schienen, suggerierten eine fröhliche Buntheit zwischen Barock und Frühklassik.
Brahms dagegen (Präludium und Fuge a-Moll) war im guten Sinne „humorfrei“. Mit norddeutschem Ernst ließ er sein Werk homogen aus einem Keim sich folgerichtig entwickeln. Und schließlich ein Höhepunkt französischer Orgelmusik der klassischen Moderne: „Litanies“ des im Zweiten Weltkrieg gefallenen Jehan Alain, ein ebenso virtuoses wie tief berührendes Opus eines Frühvollendeten.
Was bleibt noch im Bewusstsein von insgesamt 20 Programmnummern? Sicher die Uraufführung eines kurzen Werks des 1981 geborenen Patrick Pföß durch Manfred Müller – wenn man von der gekonnten freien Improvisation von Stefan Ludwig absieht. Pföß ließ sich von einem Text der Hildegard von Bingen inspirieren und versuchte, die überbordende Liebe Gottes in Töne zu fassen. Keine mystischen Ekstasen, keine Klangeruptionen wollen das Unfassbare fassbar machen. Lang gehaltene Einzeltöne unterschiedlicher Färbung erhellen die Stille wie leuchtende Strahlen. Eine Komposition, wagen wir das Paradox, von erfüllter Kargheit!
Unterschätzte bayerische Größe
Fürs Finale sorgte Gerhard Franke mit Max Reger, einer immer noch unterschätzten bayerischen Größe: „Introduktion und Passacaglia“ strömt und windet sich durch etliche Modulationen zielsicher zum triumphal-versöhnlichen Schlussakkord. Viel Beifall für vier glückliche Organisten von einem dankbaren Publikum! „Niederschwellig“? Sicher nicht. Aber hochkarätig!