Ein Sturmwind fegt durchs Kuko

von Redaktion

Meisterkonzert mit der Amsterdam Sinfonietta und den Brüder Jussen am Piano

Rosenheim – Manche im Publikum befürchteten vielleicht schon den Untergang des Abendlands, während andere „ex oriente lux“ gejubelt haben. Was ist geschehen? Ein Meisterkonzert mit dem wohl ungewöhnlichsten, ja abenteuerlichsten Programm-Mix, der in die Annalen der Stadt (oder gar ins Buch der Rekorde?) eingehen dürfte: Die Streicher-Formation „Amsterdam Sinfonietta“ unter der temperamentvollen Leitung der Geigerin und Dirigentin Candida Thompson und dem vierhändig am Flügel agierenden Brüderpaar Lucas und Arthur Jussen servierten dem Rosenheimer Publikum vier extrem gegensätzliche Werke, für die aber doch als gemeinsames Motto der Titel der vierhändigen „Lebensstürme“ von Franz Schubert dienen könnte.

Ein Innehalten im
Strudel der Welt

Zunächst Arvo Pärts bewusst karges Werk mit dem Titel „These Words…“ Ein Innehalten im Strudel der unheilen Welt, flimmernde Klangflächen, flirrende Tremoli und skandierende Pizzicati schmiegen sich dem Text eines altslawischen Hymnus an. Zu den Streichern gesellten sich sparsam – aber wirksam – Triangel und zirpende Zimbeln und klackend perkussive Akzente. Hier war schon die faszinierende Symbiose aller Musikerinnen und Musiker zu spüren und zu sehen: Kleinste Nuancen wurden ausgekostet, winzige Übergänge genauestens gespielt. Und ganz besonders spannend wurden die Abbrüche, der unvermutete Stillstand zelebriert. Übrigens: Die Violinen waren ausschließlicheine Domäne der Damen. Die Bassregion beherrschten die Männer, und nur die Bratsche teilten sich beide Geschlechter, durch die Bank eine sehr junge Generation und zugleich eine kompetente Charme-Offensive aus den Niederlanden. Eine Art Enfant terrible ähnlich Igor Levitt ist der türkische Pianist und Komponist Facil Say. Der inzwischen 50-Jährige positioniert sich auch politisch und scheint dem Präsidenten seiner Heimat ein Dorn im Auge zu sein. Auch dass er sich so sehr für Jazz und die westliche klassische Musik begeistert, geht diesem Machthaber gegen den Strich. Kurz: Facil Say hat den Brüdern Jussen ein regelrechtes Klavierkonzert auf den Leib geschrieben, welches diese nun mit rasanter Virtuosität und geballter Kraft den Rosenheimern buchstäblich um die Ohren schlugen.

Was dem einen zu westlich-klassisch, ist den andern wohl noch zu unvertraut-türkisch. O-Ton eines älteren Herrn nach dem Klavierkonzert: „Hoffentlich wird’s jetzt besser…“

Nein, mit türkischer Folklore verschonte uns der Komponist. Unverkrampft und mit im besten Sinn naiver Freude an Farbigkeit und rhythmisch-sportiver Hochleistung (Carl Orff hätte gestaunt, wenn er seinen Kollegen hätte hören können!) handhabt er die Mittel der Avantgarde undoktrinär, vital und effektsicher. Nie wird Facil Say nur plakativ oder gar platt, die turbulenten Einfälle fügen sich zum Ganzen. Die Satzschlüsse: Eine Vollbremsung von Überschall-Geschwindigkeit auf Null. Selbst irritierten Zuhörern dürfte es keine Sekunde langweilig geworden sein.

Lucas und Arthur Jussen, in dezent glitzernden Anzügen wie Magier aus Las Vegas wirkend, kamen sich trotz ausladender Körpersprache angesichts des schmalen Platzes vor der Tastatur nicht ins Gehege und meißelten die hämmernden Tonrepetitionen in glasklarer Präzision.

Nach der Pause betrat man mit Franz Schubert scheinbar die gewohnte klassische Komfortzone. Doch versuchen wir uns in die Zeitgenossen Schuberts zu versetzen: Mussten die nicht von diesen heftigen, mitunter harschen „Lebensstürmen“ zutiefst verunsichert bleiben? Lucas und Arthur Jussen, von den rhythmischen Attacken des Klavierkonzerts noch angeregt, akzentuierten die punktierten Akkordschläge mit gnadenloser Härte. Das war ein nachtschwarzer Schubert, so wie es in seiner Seele wohl öfter ausgesehen hat. Nun wurden die beiden Pianisten vom Publikum besonders überschwänglich beklatscht!

„Unfertig“ ist nicht
„unvollendet“

Gustav Mahler war lange Zeit ein Stein des Anstoßes, inzwischen wird er längst als Ikone der frühen Moderne gewürdigt. Die zehnte Symphonie blieb Torso, nur den ersten Satz konnte er vollenden. Doch „unfertig“ heißt noch lange nicht „unvollendet“ (das kennt man ja schon von Schubert) und so darf dieser halbstündige Satz durchaus als abgerundetes symphonisches Opus passieren. Mahler war Meister im Instrumentieren und so vermisst man in der Fassung nur für Streicher halt doch die Bläser – es schmeckt dann ein bisschen vegan. Zum Ausgleich enthüllt sich in dieser abgespeckten Form Mahlers Modernität, die Spätromantik wird zurückgedrängt.

Die eigentlichen Lebensstürme sind in der Zehnten vorüber; Sehnsucht, Resignation, auch Schmerz kommen hier in präzis formulierter Weise zu ergreifendem Ausdruck.

Die Amsterdam Sinfonietta und die umsichtig leitende und zugleich mitgeigende Candida Thompson überboten sich nochmal an Tonschönheit, Schmelz und traumhaft gelingendem Zusammenspiel. Diese Truppe würden wir gerne erneut im Kuko erleben – am besten wieder mit einem interessanten Programm abseits des Mainstreams.

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