Ein visionäres Endzeit-Drama

von Redaktion

Gelungene Premiere des Böll-Stückes „Ein Schluck Erde“ am Theater Wasserburg

Wasserburg – Mit der Inszenierung des Stückes „Ein Schluck Erde“ von Heinrich Böll traf das Theater Wasserburg exakt den schmalen Grat zwischen Beklemmung und Begeisterung. Zur Premiere zeigten Regie und Schauspiel eine dramaturgische Glanzleistung, die vom Publikum entsprechend gefeiert wurde.

Heinrich Böll skizziert in „Ein Schluck Erde“ wie die Existenz weniger Überlebender nach dem Weltuntergang aussehen könnte. Die Welt steht nach dem Anstieg der Meeresspiegel unter Wasser. Wer nicht ertrunken ist, harrt auf Gerüsten aus. Das Leben wird bestimmt vom täglichen Kampf um Nahrung, Treibgut, das Taucher aus dem Wasser fischen. Nur wenige Flächen sind trocken – ein „Schluck Erde“ wird zur Kostbarkeit.

Eine dystopische Gesellschaft

In dieser dystopischen Gesellschaftsordnung haben die „Wisser“ mit ihrem Anführer Trenner ein totalitäres System etabliert. Sie herrschen über die Verteilung der Nahrung und über die konkurrierenden, lustbetonten „Kresten“. Trenner überwacht mit aller Härte die Einhaltung eines sparsamen Lebenswandels: „Wir haben den Pfad der Lust verlassen. Auf das Leben folgt der Tod, das ist unser Generationenvertrag.“ Wer so wie die Kreste Dräs nicht spurt, der hungert, wird gefoltert oder mit dem Tod bedroht. Wie bei einer mittelalterlichen Hexenprobe wird Dräs deshalb wiederholt untergetaucht. Doch aller Strafen zum Trotz gelingt es Trenner nicht, die letzten verblieben Eigenschaften der Humanität wie Gewissen und Empathie, aber auch Genuss- und Lustempfinden auszurotten. Diese letzten Reste von Menschlichkeit werden zur Gefahr für das System. „Nur die Demokratie ist in der Lage, ihre Feinde auszuhalten, alle anderen Systeme müssen sie ausmerzen“, so Trenners Überzeugung.

Die kreativen Ideen in Nik Mayrs Inszenierung machen das postapokalyptische Drama allein schon zu einem optischen Erlebnis. Die Handlung spielt auf allen vier Seiten der Theaterempore. Ein wackelig anmutendes Baugerüst ist die einzige Verbindung zu Dräs. Sie ist eingesperrt in einem Gitterkäfig, der in luftiger Höhe über der Bühnenmitte hängt. Auch schauspielerisch hat die Inszenierung sehr viel zu bieten. Annett Segerer überzeugt als gefühlsbetonte Dräs, Rosalie Schlagheck als Berlet. Obwohl selbst „Wisserin“, hat Berlet noch Mitgefühl. Sie sorgt sich um Dräs, sehr zum Ärger von Trenner, hervorragend gespielt von Carsten Klemm. Trenners Ziel ist es, alle philantrophen Wesenszüge bei seinen Gefolgsleuten Imona (Amelie Heiler) und Schuster (Andreas Hagl) auszurotten.

Die Umsetzung der Sprechrollen gelang allen fünf Darstellern hervorragend. Böll hatte eigens eine gekünstelte Sprache entwickelt, gekennzeichnet von Manierismus, übertriebenem Pathos und einer Semantik, wie sie sich totalitäre Herrschaftssysteme gerne zu eigen machen. Beim Blick nach Russland oder auch Nordkorea ist dieser, von Größenideen geprägte und ansonsten abwertende Sprachduktus wieder erschreckend präsent.

Realitätsnahe
Inszenierung

Für die Kritik galt Heinrich Böll nach der Uraufführung seines ersten Bühnenstückes am Düsseldorfer Schauspielhaus 1961 als Bühnenautor gescheitert. Heute, 63 Jahre später, weiß man es besser. Nahezu beängstigend prophetisch und visionär beschrieb der spätere Nobelpreisträger in seinem Endzeitdrama eine Katastrophe, die nach Einschätzung der aktuellen Klimaforschung in naher Zukunft durchaus Realität werden könnte. Von der realitätsnahen Inszenierung am Theater Wasserburg wäre bestimmt auch Böll begeistert gewesen.

Aufführungen

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