Großkarolinenfeld – Die Karolinenkirche, die erste evangelische Kirche in Altbayern, 1805 erbaut, ist ein entzückend schlichter klassizistischer Raum mit großer Aura. Diese Kirche wird zum Zwecke einer Renovierung ab dem 1. April für ein Jahr geschlossen. Die evangelische Kirchengemeinde wollte nicht sang- und klanglos Abschied nehmen, sondern im Gegenteil mit Sang und Klang und Tanz und Kunst.
Die Künstlerin Katharina Gaenssler verhüllte deswegen den so hohen Kirchenraum mit großen weißen Leinwandvorhängen – Christo lässt grüßen. Der Künstler Christoph Lammers bemalte diese Vorhänge. Doch so banal wollte Pfarrer Dr. Richard Graupner es nicht belassen: Er ist nicht umsonst auch Kunstbeauftragter der evangelischen Landeskirche für Oberbayern. So inszenierte er eine große Tanz-, Klang, Sang- und Zeichenperformance in der kleinen Kirche unter dem vielsagenden Titel „Tuchfühlung“.
Zu den bildenden Künstlern gesellten sich die Sängerin Anahita Ahsef und der Klangkünstler Corbinian Meier. Doch vor der Kunst kam das Wort: Dr. Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, spürte in seinem ausführlichen und tiefschürfenden Einführungsvortrag dem Wort „Tuch“ nach: Er erinnerte an den „Zauber der textilen Höhlen im Raum“, mit dem sich Kinder eine eigene Welt schaffen, kam dann zur „Ur-Höhle“, dem Mutterbauch, verglich die Vorhänge mit den Fastentüchern, die in der Fastenzeit den Altar verhüllen, und deutete das Weiß als Nichts und damit als kathartische Chance, einen Möglichkeitsraum zu gestalten.
Viele Beispiele für die metaphorische Kraft des „Gewands“ nahm er aus der Passionsgeschichte, von den Mänteln, über die Christus in Jerusalem einzog über das Schweißtuch der Veronika bis zu den leeren Tüchern im Grab von Christus, die die Auferstehung symbolisieren.
Dann endlich kam die Aktion: Anahita Ahsef stimmte mit ausdrucksstarker Stimme viele Lieder und Melodien aus dem Verdi-Requiem, aus der Matthäuspassion und aus der Volksmusik an und animierte die Zuschauer zum Mitsingen. Dabei wanderte sie durch den Raum, wickelte sich in die Vorhänge, umwickelte Zuschauer und auch den sie mit vielen Instrumenten begleitenden Corbinian Meier, der seine Instrumente aus weißem Packpapier auswickelte: Viel Fantasie, viel Spontaneität entwickelte sich aus großer Nähe zum Publikum: eben auf Tuchfühlung.
Die Zuschauer wanderten mit der Sängerin in der Kirche herum – und mussten dabei öfter dem Maler Christof Lammers ausweichen, um nicht mit seinen Farben bekleckert zu werden. Der Maler beschrieb, bekritzelte und bemalte die weißen Tücher mit kurzen und dann immer längeren Pinseln und auf kurzen und dann längeren Leitern, zuerst nur Schwarz auf Weiß und dann auch mit Farbe.
Maler, Sängerin und Musiker, zunächst in reines Weiß gekleidet, nahmen immer mehr die Farben des Malers mit an, wurden geschwärzt und dann immer bunter. Alle drei interagierten immer mehr untereinander, parallelisierten ihre Gesten oder wendeten sie ins Gegenteil: ein Kunst-Spiel, entstanden aus dem reinen Weiß, dem Nichts, das, in den Worten von Dr. Maaz, „Transzendenz und Transluzenz“ ermöglichte: vital, fröhlich, fantasievoll und lebendig.
Rainer W. Janka