Sternenstaub und schwarzer Samt

von Redaktion

Die russische Pianistin Anna Geniushene eröffnet die Klaviertage Erl

Erl – Ein so exzeptionelles und wohlausgeklügeltes Klavierprogramm erlebt man selten: Die Klaviertage der Tiroler Festspiele Erl eröffnete die junge russische Pianistin Anna Geniushene, die jetzt in Litauen lebt, mit lauter Werken, die den Titel Opus 1 tragen – also alles Auftritt, Ankündigung und Versprechen. Dabei war alles im Programm drin, vom tänzelnden Rokoko mit Muzio Clementi, Romantik mit Schumann, Chopin und Brahms und auch die Dekonstruktion der Spätromantik mit Alban Berg.

Subtil und
unendlich variabel

Anna Geniushene hat die Silbermedaille im Van-Cliburne-Wettbewerb 2022 gewonnen und damals viele Kritiker begeistert. Diese Begeisterung erneute sich beim Auftritt in Erl: Bis zur Pause verweigerte die Pianistin jegliche rein äußerliche Virtuosenprotzerei, blieb immer subtil, unendlich variabel und nuancenreich im Anschlag und insgesamt geradezu samtigweich – als bette sie blitzende Diamanten auf schwarzen Samt, wo sie umso mehr funkeln, glitzern und glänzen.

Die Sonate op. 1 von Clementi: fein hingetupft, tänzerisch und singend, dabei auf dem Klavierstuhl mitwippend; quirlige, aber tastenstreichelnde Brillanz dann im Rondo op. 1 des damals 15-jährigen Frédéric Chopin. Die Pianistin adelte die doch etwas banale Abfolge von rauschenden Passagen, Trillern und Fiorituren mit subtiler Noblesse, gab nicht den Tastentausendsassa. Wie mit Sternenstaub übersät klang dann das Wiegenlied des polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg, ausdrucksvoll langsam mit deutlicher Betonung der Melodie gespielt. Und überraschend duftig-weich kamen die ABBEGG-Variationen von Robert Schumann. In den Noten steht am Beginn Mezzoforte – bei Geniushene war’s ein fast ätherisches Piano. So kostbar, erlesen und feingesponnen ging‘s dann weiter, das rauschende Passagenwerk mit den Sechzehntel-Sextiolen wirkte wie leicht aus dem Ärmel geschüttelt. Doch bei Tschaikowskys zwei Stücken für Klavier zeigte die Tastentigerverweigerin dann doch die Krallen: Sie zeigte wild-furiose Leidenschaft mit Tastengedonner, das aber immer geschmackvoll blieb.

Nach der Pause kamen dann die gewichtigsten Werke: Die Sonate von Alban Berg ist erst auf dem Weg zur Atonalität, ist reich an melodischer Harmonik, permanenten Alterationen (das chromatische Versetzen von Tönen innerhalb eines Akkords) und enharmonischen Verwechslungen, sodass die genannte Tonart H-Dur zur bloßen Formalität wird: Der Notentext ist überreich überschüttet mit Vorzeichen.

Theodor W. Adorno attestierte dieser Sonate eine „gewisse dunkle Weichheit“ und konstatiert: „In dieser Sonate ist alles Übergang.“ Anna Geniushene erwies sich als die Meisterin des gleitenden Übergangs und der dunkelglühenden Weichheit. Trotz aller Feinnervigkeit wurde ihr Anschlag härter, fordernder, gleichsam didaktischer, als wollte sie uns diese Übergänge einhämmern. Immerhin ist hier ein doppeltes Fortissimo gefordert – aber am Schluss entschwindet alles ins fast unhörbare Pianissimo.

Tigerpranke statt Samthandschuhe

Und dann zog Anna Geniushene am Schluss endgültig die Samthandschuhe aus und zeigte die Tigerpranke: Vehement stürzte sie sich in den Beginn der Sonate Op. 1 von Johannes Brahms, der an Beethovens Hammerklaviersonate gemahnt, und stürmte furios ohne Rücksicht auf Notenverluste durchs Finale. Dazwischen gestaltet sie die lyrischen Teile klangzauberisch in weit gespannter Ruhe.

Für den aufbrandenden Applaus bedankte sich die Pianistin mit der fast neckisch-schelmisch vorgetragenen Bagatelle op. 33/1 von Beethoven. Es war ein fulminanter Auftritt und eine vielversprechende Verkündigung einer jungen Pianistin, von der man hoffentlich noch viel hören wird.

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