Rosenheim – Goethes berühmtes, scheinbar einfaches und verständliches Gedicht „Wandrers Nachtlied“ gibt Rätsel auf, die bereits mit der Überschrift beginnen. Inhalt und Form des 1780 entstandenen Gedichts aber sind in poetischer Vollendung miteinander verschmolzen. Der langjährige Kulturkritiker Rainer W. Janka sprach im Künstlerhof am Ludwigsplatz vor zahlreichen Zuhörern sachkundig und anschaulich über die Entstehung, die Rezeptionsgeschichte und das literarische Weiterwirken des Gedichts in Parodien und Vertonungen. Schauspieler Andreas Schwankl rezitierte die verschiedenen Gedichte und las einzelne Briefstellen. Zur Illustration zeigte der Referent immer wieder zum Text passende Bilder.
In seiner umfangreichen Goethe-Biografie hat der Psychoanalytiker Kurt Robert Eissler einen kühnen Interpretationsversuch unternommen. Eissler sprach von Goethes masochistischer Phase. Geschrieben hat Goethes das Gedicht vermutlich am 6. September 1780 auf dem Kickelhahn, nachdem er den Sonnenuntergang genossen hatte. Der Dichter schläft ein, schreibt aber nach dem Aufwachen einen Brief an Charlotte von Stein, der er berichtet, dass ein Brief „von der schönen Frau“, der Marquesa Branconi gekommen sei. Goethe hatte die Branconi auf der zweiten Schweizer Reise kennengelernt und sich in sie verliebt.
Als Goethe das Gedicht schrieb, habe er laut Eissler seinen inneren Grundkonflikt zwischen Disziplin und Lust thematisiert. Im Kopf hatte Goethe das Bild der ruhigen Landschaft, gleichzeitig das der „asexuellen“ Charlotte von Stein, an die er gerade schrieb und den Brief der sinnlichen Marquesa. Das Zeichen der völlig stillen und bewegungslosen Landschaft repräsentiere im Gedicht den Körper der unsinnlichen, leblosen Frau von Stein. Die Zeilen „Warte nur! Balde/Ruhest Du auch“ seien als unbewusster Todeswunsch gegen Frau von Stein zu verstehen.
Was aber genau Goethe an die Bretterwand des Jaghäuschens schrieb, wissen wir nicht, so Janka, denn das Häuschen, von dem lediglich eine Fotografie existiert, ist im August 1870 abgebrannt. Einmal wollte sogar ein Fremder Goethes Gedicht mit einer Säge herausschneiden. Als der alte Goethe 1831 noch einmal sein Gedicht auf dem Kickelhahn liest, flossen ihm Tränen über die Wangen. Sein Begleiter berichtet: „Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Thränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: ,Ja, warte nur, balde ruhest du auch!‘“
Neben Eissler aber gibt es unzählige andere Interpretationen des Gedichts. Für den Germanisten Emil Steiger sei es „eines der reinsten Beispiele lyrischen Stils“. Manche würden das Gedicht als Liebesgedicht lesen, andere religiös als ein Abendlied oder als ein weltliches Gebet um den inneren Frieden.
Im Gedicht ist die Natur geschildert nicht als Chaos, sondern als Kosmos, als vielleicht vom Menschen geordnete, domestizierte, bewohnte und dienstbar gemachte Natur. Der Widerspruch des Menschen bestehe laut Janka darin, natürlich und unnatürlich zugleich zu sein, wesentlich unruhig und ebenso wesentlich sehnsüchtig nach Ruhe. „Das Gesetz der Natur, das eine zwingende Bewegung zur Ruhe hin vorschreibt, muss sich auch am Menschen erfüllen“, so der Referent.
Übersetzt wurde das kultische Gedicht in nahezu alle Sprachen. Witzig war die bayerische Übersetzung von Franz Ringeis, parodistisch Christian Morgensterns „Fisches Nachtgesang“. Zungenbrecherische Akrobatik bewies Andreas Schwankl, als er das Lautgedicht von Ernst Jandl las, politisch anklagend war die Auseinandersetzung Bertolt Brechts in seiner „Liturgie vom Hauch“.
Auf die grausige Komik von Karl Kraus folgten noch ein kalauerndes Gedicht von Joachim Ringelnatz und skurrile Werbesprüche. Zu Herzen gingen schließlich die Vertonungen, darunter die herrliche Adaption des Goethe-Gedichts von Franz Schubert, die den überaus anregenden und geistvollen Abend beschloss.Georg Füchtner