Herrenchiemsee – In einem kürzlich veröffentlichten Zeitschriften-Beitrag sollte sich William Youn über seine letzten 24 Stunden äußern und wie er diese Zeit gerne verbringen würde. „Ich habe Franz Schubert im Ohr“, äußert er an einer Stelle. „In seiner Musik geht es viel um das Ende und den Tod. Diese Stücke sind aber nicht nur traurig, sie handeln vom Loslassen.“ Damit trifft Youn einen ganz zentralen Punkt der Schubert-Exegese.
Die große Herausforderung bei Schubert ist es, eine Gleichzeitigkeit vom Leiden an der Welt einerseits und einem Sehnen nicht mehr von dieser Welt andererseits herauszustellen. In der fragil schwebenden Melancholie und sehnsuchtsvollen Jenseitigkeit mischt sich stets auch ein irdisches Ringen und Hadern. In den „himmlischen Längen“ seiner Musik, wie es einst Robert Schumann nannte, und dem kantablen Lyrismus ist genauso das Drama präsent. Beim „Inselkonzert“ auf Herrenchiemsee hat Youn einmal mehr deutlich gemacht, warum er zu den führenden Schubert-Exegeten unserer Zeit zählt. Seine Schubert-Gesamtaufnahme setzt eigene Maßstäbe. Im Bibliothekssaal des Alten Schlosses hat Youn, mit Nils Mönkemeyer Leiter der Reihe, im Grunde zwei Schlüsselwerke präsentiert. Wie Mönkemeyer treffend skizzierte, hat Schubert in der Sonate D 784 von 1823 nach einer Zeit der Krise seinen ureigenen Tonfall gefunden.
Anders die Sonate D 850 zwei Jahre später: Allein der Kopfsatz strebt ins Sinfonische, für Schubert ungewöhnlich aufgeklart die Farbgebung. Im Spiel von Youn wurde indessen hörbar, wie sehr beide Werke zusammengehören. Die feine Melancholie bleibt stets präsent. Es sind nuancenreiche Brechungen und Reibungen, die Youn hörbar machte: schmerzlich, aber frei von Larmoyanz und Sentimentalität.
Gleichzeitig wandelt sich bei Youn, fast schon subversiv, das Liedhafte zum Drama und das Drama zum Liedhaften. Ein Wunder der Ausklang dieser an sich brillanten Sonate D 850: Bei Youn löste sie sich im zerbrechlichen Pianissimo buchstäblich auf. Denn Schubert misstraut dem Hier und Jetzt, und das bedeutet für Youn auch, dass Werkabschlüsse zumeist Fragezeichen bleiben. Youn spielt nicht Schubert, sondern wird buchstäblich zu Schubert. Seine Empathie und Sensibilität für diese Musik ist schlicht stupend.
Das eigentliche Wunder des Klavier-Nachmittags auf der Herreninsel war jedoch die Koppelung der beiden Schubert-Sonaten mit zwei Bearbeitungen von Liedern von Reynaldo Hahn für Klavier von Youn sowie mit „Une barque sur l’océan“ aus den „Miroirs“ von Maurice Ravel. Da war einerseits in Schubert rückblickend ein salonhafter Gestus zu vernehmen, um andererseits in seinen weit gespannten Melodien bereits den farben- und schattenreichen Lyrismus von Ravel wahrzunehmen. Die „himmlischen Längen“ Schuberts sind bei Ravel unendlich variierte Klangkaskaden.
Die „Belle Époque“ Hahns hat Youn unlängst eingespielt, nicht aber Ravel. Das wäre außerordentlich lohnenswert, weil Youns Ravel eine unerhörte Eigenkraft entwickelt. Für dieses „InselKonzert“ wurde zugleich mit der Aufstellung des Flügels und der Bestuhlung experimentiert. Der Flügel stand nicht mittig im Saal, sondern links. Gleichzeitig war der Deckel abmontiert, damit sich der Klang nach oben freier entfalten kann. Die Balance von Dynamik und Farbgebung war besser als zuvor: eine sehr gute Idee. dr. Marco Frei