Frauenchiemsee – Das Herrenchiemsee-Festival läuft nicht erst im Spiegelsaal des Schlosses auf Hochtouren, nur weil sich die ersten Veranstaltungen auf der Fraueninsel als scheinbar brave Kirchenkonzerte tarnen. Das Konzept im Münster machte neugierig: „Ungleiche Rivalen“. J. S. Bach kontra Johann Adolph Scheibe, also Weltkulturerbe gegen den von der Musikgeschichte Vergessenen? Nein, so einfach war das Programm beileibe nicht gestrickt. Ein bisschen Biografie vorweg:
Einen anderen vorgezogen
Der große Bach hatte dem 20 Jahre jüngeren Scheibe bei der Bewerbung um die Organisten-Stelle von St. Thomas einen anderen vorgezogen, obwohl Vater Scheibe mit Bach befreundet war. Nun lästerte Scheibe junior öffentlich gegen Letzteren: Seine Musik sei überladen, verworren und finster, ja sogar schwülstig. Bach war erbost, aber Scheibe machte nun Karriere am dänischen Hof.
Erst als auch seine Musik durch die aufkommende Mode der italienischen Oper in Bedrängnis geriet, wurde er zum Verteidiger des einst Geschmähten. Im Konzert ging es natürlich nicht um verjährte Querelen und Verletzungen, sondern um die Musik: Was hat der „ungleiche Rivale“ Scheibe kompositorisch zu bieten!
Halten wir fest: Johann Adolph Scheibe (bei Gott kein prickelnder Name für einen Künstler!) ist keine museale Ausgrabung, sondern eine lohnende Entdeckung. Er hatte aber auch mit dem „Concerto Köln“, der Oboistin Clara Blessing, der Mezzosopranistin Laila Salome Fischer sowie dem Multi-Talent Max Volbers (Flöte, Cembalo und Leitung) nicht nur engagierte, sondern brillante, souveräne und mitreißende Sachwalter.
Blitzartig entfesselte Max Volbers als Solist mit dem Flötenkonzert in C-Dur (einem Pasticcio, also einer Zusammenstellung aus den Konzerten BWV 1053 und 1042) ein rasantes Feuerwerk, in dem sämtliche Pointen, Finessen und genialen Einfälle Bachs punktgenau gezündet wurden.
Das Publikum verfolgte das Geschehen atemlos, und staunte nur, wie der Flötist mit vehementer Körpersprache die letzten Luftreserven mobilisierte.
Mit Scheibes „Concerto per Oboe d’amore“ in h-Moll hatte nun Clara Blessing ihren großen Auftritt. Fünf relativ kurze Sätze im Wechsel von Allegro und Adagio ließen das Profil eines zupackenden, auf dramatische Zuspitzung bedachten Komponisten erkennen. Mit betörend schönem Ton (die „Liebesoboe‘“ trägt ihren Namen zu Recht) modellierte Clara Blessing die edlen Melodien der langsamen Sätze, und blieb in den Allegros dem Komponisten an quirliger Virtuosität nichts schuldig.
Zwischendurch sorgten einige Arien nicht nur für Abwechslung, sondern auch für eine andere Dimension von Musik: Laila Salome Fischer gestaltete ihre Parts mit feuriger, alle Emotionen der etwas drögen Texte auslotenden Stimme. Von Bach erklang „Mein Herze schwimmt im Blut“ (aus der Kantate BWV 199), von Scheibe „Willkommen, Heiland“, und vor allem Scheibes krönender Höhepunkt (aus einem Oratorium) „O tötet mich nur auch, vermessene Seelen“. Dieser zwar verzweifelt hoffnungslose, aber dramatisch aufgewühlte Trauergesang der Mutter Jesu mündet wiederholt in die musikalisch ins Leere laufende Klage: „Mein Sohn ist tot…!“ Laila Salome Fischer brachte mit ihrer suggestiven, zutiefst berührenden Interpretation und einer unter die Haut gehenden Eindringlichkeit den guten Scheibe aus dem 18. Jahrhundert ins Hier und Heute. Unvergesslich!
Solokantate
zum Abschluss
Abschließend die Solokantate „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (BWV 170) als glanzvolles Finale, in dem auch alle Solisten nochmal zum Zug kamen. Bachs Meisterschaft, innere Spannung zu erzeugen, Gefühle bis ins Extrem auszureizen und bei aller Vielfalt eine formale Geschlossenheit zu gewährleisten, ist zweifellos unübertroffen. Riesenbeifall für alle Beteiligten, sicher auch für Johann Adolph Scheibe, dem Bach nun väterlich anerkennend auf die Schulter geklopft haben mag. Eine Zugabe noch – ein Stück aus dem Schemelli-Gesangbuch von Johann Sebastian. Jetzt hat sich Scheibe vor Bach verneigt, oder?