Herrenchiemsee – Musikensembles haben ihre je eigenen Namen. Dasjenige, das bei den Herrenchiemsee Festspielen Geigenmusik aus dem europäischen Barock spielte, war dabei besonders findig: „Les Essences“ ist ein Wortspiel aus dem Begriff „Essenz“ und der Stadt Essen, wo die meisten Musiker studiert haben oder wohnen. Die wollen nichts anderes als die Essenz der Barockmusik mit ihrem Spiel herausholen und präsentieren.
Geboren ist diese Idee aber nicht in Essen, sondern auf Herrenchiemsee, weil fast alle Musiker Mitglieder des Orchesters der Klangverwaltung sind, mit dem der Festspielbegründer Enoch zu Guttenberg zusammengearbeitet hat. Sie tragen also seinen Geist, seine „Essenz“, weiter. Önder Baloglu, der Gründer und Konzertmeister des Ensembles, moderierte, weil Reinhard Goebel, der das Programm konzipiert und einstudiert hatte, im Autobahnstau steckengeblieben war. Er tat dies klug, humorvoll und bildkräftig.
Die Kunst
der Violine
Betitelt war das Konzert mit „L‘ arte del violino“: Önder Baloglu sagte, dass die Geige eines der ersten Dinge war, auf das alle Europäer sich – zumindest musikalisch – geeinigt haben: eine musikalische Europäische Union. Und als demokratische Diskussion bis zur Einigung definierte er sein Ensemble-Spiel: Bei den Konzerten mit ein bis vier Solo-Violinen gebe es wie in der Politik Koalitionen und Oppositionen sowie eine heftige Diskussion, bis sich alle auf einen Kompromiss oder Schlussakkord geeinigt haben. Und so demokratisch spielten die Musiker auch, im Stehen und immerfort mit Blicken und Körperbewegungen und instrumentalen Zuwendungen kommunizierend.
Das einleitende „Concert pour 4 parties de violes“ von Marc-Antoine Charpentier war etwas zum Warmspielen, die höfisch-hüftsteife Musik wurde auch durch Baloglus Hüftschwünge nicht viel interessanter. Fröhliche Stimmung kam – trotz des eigentlich blutigen Themas – auf bei der „Battalia à 10“ von Heinrich Ignaz Franz Biber: In dieser musikalischen Schlachtenschilderung rumort es gewaltig: Da schlagen Bogen auf die Saiten, da stampfen die Musiker mit den Füßen auf und singen, jaulen und johlen als Landsknechte dissonant durcheinander und sogar Schüsse knallen mittels heftigem Saitenreißen aus der Bassgruppe. Alles endete in einem herzzerreißend chromatischen Lamento der verletzten Musketiere: Krieg als ästhetisches Schau- und Hörbild.
Gleißender und glutvoller Glanz herrschte dann im 3. Brandenburgischen Konzert von Johann Sebastian Bach – in der abgespeckten Frühfassung – mit so viel speckreichem Prunk, dass die Illusion des Barocks des Spiegelsaals plötzlich zum echten Barock wurde. Der Schlusssatz kam in so irrsinnig schnellem, jagendem Tempo, dass man als Zuhörer den Atem anhielt, weil man fürchtete, die Musiker könnten dabei ins Straucheln geraten.
Im feurigem Schwung des Concertos für drei Violinen F-Dur RV 551 von Antonio Vivaldi hörte man dann die von Baloglu so benannten demokratischen Diskussionen: Die drei Soloviolinen unterhielten sich, diskutierten, interagierten, stritten und antworteten musikalisch, wobei auch das Plenum daran teilnahm. Im Andante zupfte die zweite Geige (vom Diskutieren erschöpft?) dazu, im Finale waren alle höchst temperamentvoll-italienisch einig.
Rauschende Klangwand
Vier Solo-Violinen waren’s dann sogar im Concerto F-Dur von Pietro Antonio Locatelli: eine rauschende Klangwand, gegliedert durch kräftige Tutti-Schläge, alles von „Les Essences“ geboten.
Als „eines der schwierigsten Violinkonzerte“ kündigte Önder Baloglu das g-Moll-Konzert op. 10/6 von Jean-Marie Leclair an. In der Tat ist es gespickt mit geigerischen Schwierigkeiten, schnellen Läufen, Lagenwechseln, Doppelgriffen, Spitzentönen von schnellen Läufen, die trotzdem noch klingen müssen, Akkordbrechungen und Spiccati.
Önder Baloglu meisterte alle Schwierigkeiten, obwohl der meisterliche Schweiß floss. Der zweite Satz sei „zu Herzen gehend, ohne die Ohren zu verstopfen“, hatte Reinhard Goebel gesagt, der Finalsatz war geprägt von heftig reißenden Anstrichen, alles war hochvirtuos und durchaus auf Bravour getrimmt und ein Paradebeispiel für das Konzert-Motto: „L‘ arte del violino“.
Der Applaus für diese Essenz der Barockmusik kam explosiv. Für den Schlussapplaus bedankten sich „Les Essences“ aus Essen mit der Wiederholung einer Gigue aus dem Konzert von Charpentier.