Herrenchiemsee – „Kent Nagano macht ja gern total schräge Sachen“, sagte der Intendant der Festspiele Herrenchiemsee kürzlich in einem Interview. Doch: „Der Chiemsee ist nicht der Ort für große Experimente.“
Von Mozarts Violinkonzert D-Dur, KV 218, der Geigerin Fabiola Kim und dem Orchester der Klangverwaltung plus Anton Bruckners 6. Symphonie war im Spiegelsaal des Schlosses wohl keine experimentelle Gefahr zu befürchten. Allerdings rief einst ein renommierter Kultur-Journalist des 19. Jahrhunderts während einer Bruckner-Symphonie ungeniert „Pfui!“
Melodik zum Leuchten gebracht
Fabiola Kim stürzte sich zunächst mit stählerner Wucht in Mozarts Violinkonzert und schien die blanke Virtuosität ihres Parts zu kultivieren. Doch schnell wurde man eines Besseren belehrt: Ihr Ton gewann zusehends an Wärme, und gerade in den tieferen Lagen brachte sie die Melodik zu beseeltem Leuchten. Die New York Times rühmte Kims „außergewöhnliche Präzision“; dem kann man nur bewundernd zustimmen!
Im zweiten Satz Andante cantabile schien es, als ob die Solistin mit Mozarts Musik verschmölze. Da fühlte sich das Publikum, gemäß dem Motto, wohl gänzlich „der Welt entrückt“! Das temperamentvolle Agieren und die lächelnden Blickkontakte der Geigerin mit dem Maestro, aber auch mit den Kollegen im Tutti ließen die Zuhörer schon optisch das tänzerisch beschwingte Rondeau des letzten Satzes miterleben. Die in rascher Abfolge wechselnden Refrains und Couplets erschienen wie unterschiedlich ausgeleuchtete farbige Kulissen eines heiteren Theaters. Eine besondere Tugend: Die Solokadenzen vereinnahmte Fabiola Kim weniger zur Demonstration ihrer akrobatischen Fähigkeiten, sondern sie integrierte diese behutsam in den Gesamtzusammenhang. Die stürmisch beklatschte Solistin bedankte sich mit „Gavotte en Rondeau“ aus der Partita III von Johann Sebastian Bach und bewies wieder einmal mehr, wie glutvoll, ja charmant die Musik des scheinbar so gestrengen Thomaskantors klingen kann.
O-Ton aus dem Publikum nach der Pause: „Jetzt wird’s anstrengend!“ Für das Orchester der Klangverwaltung ohne Zweifel. Denn wenn Bruckner selbst die Sechste als seine „keckste“ Symphonie bezeichnete, so dürften damit sicher auch die hoch geschraubten technischen Anforderungen gemeint sein. Während Dirigent und Orchester bei Mozart die Solistin mit zurückhaltend gedämpften Klängen liebevoll umschmeichelten und nur sparsam Akzente aufblitzen ließen, ging es nun bei Bruckner in die Vollen.
Welchen interpretatorischen Ansatz fand Kent Nagano? Weihrauchschwaden oder düstere Grübelei waren nicht sein Ding. Er nahm Bruckner beim Wort und ließ der Keckheit gebührend Raum. Die Streichertremoli klangen nicht mystisch, sondern sie zündeten die oft jähen Klangeruptionen nachhaltig an. Herrlich die Fortissimo-Ekstasen, wenn die Bläser mit hellem Glanz dominierten und die Streicher diese Akkorde mit wilden Bogenstrichen umspielten. Sehr innig dagegen die leisen Passagen, etwa im Trio des Scherzo: Die präzisen Pizzicati, pianissimo zwar, aber voller Energie, wurden abgelöst durch kurze, pastose Einwürfe des Blechs. Da möchte man fast von der Aura eines bezwingenden Zaubers sprechen.
Im besten Sinne kurzweilig
Der Gesamteindruck? Selbst Brahms bedauerte das durch das Vorbild Wagners angeblich monströs aufgeblähte symphonische Oeuvre Bruckners. Das viersätzige, fast einstündige Werk der Sechsten war auf Grund der faszinierenden harmonischen Konzeption und der Intensität auch beim Adagio im besten Sinn kurzweilig! Nicht umsonst steigerte Kent Nagano durch bewusstes Innehalten vor Beginn und zwischen den Sätzen Aufmerksamkeit und Spannung und förderte so die Konzentration.
Alle lauschten hingebungsvoll, ließen die geschmeidigen, „romantischen“ Kantilenen der Streicher ebenso wie die machtvollen Attacken der makellosen Bläser an sich vorüberziehen und niemand wäre auf die Idee gekommen etwa „Pfui!“ zu rufen.