Seeon – Anton Tschechow wurde nicht alt. Der russische Schriftsteller, Dramatiker und Novellist starb bereits mit 44 Jahren an Herzschwäche infolge einer Tuberkuloseerkrankung. Mit den rund 600 literarischen Werken, die er zwischen 1880 und 1903 veröffentlicht hat, gehört er nicht nur in seiner russischen Heimat, sondern weltweit zu den bedeutendsten Schriftstellern überhaupt.
Wie erlebte Tschechow seine Zeit? Wie dachte er über die Liebe und Literatur oder den Tod? Wie konnte aus dem in Armut lebenden Sohn einer ehemals leibeigenen Bauernfamilie ein sozial engagierter Arzt, Forschungsreisender und gefeierter Literat werden? Einen sehr lebendigen Einblick in das Leben und Wirken von Tschechow vermittelte eine szenische Lesung im Rahmen der Sommer-Kulturwoche „Suchers Seeoner Leidenschaften“ im Kloster Seeon.
Mit sonorer Stimme verlieh der Schauspieler und Hörbuchsprecher Stefan Wilkening dem Schriftsteller und einigen Zeitgenossen Ausdruck. In Theaterszenen, Briefdialogen mit seiner späten Liebe Olga Knipper, Textpassagen aus den Werken oder Zitatsplittern ließ er die Gedankenwelt Tschechows, sein Leben und die Reaktionen seiner Wegbegleiter lebendig werden. Die passenden Auszüge hatte der Theaterkritiker und Literaturkenner C. Bernd Sucher pointiert und mit großer Fachkenntnis ausgewählt. Im reizvollen Wechsel mit Wilkening skizzierte der Organisator der Sommer-Kulturwoche in Seeon das biografische Gerüst von Tschechows Leben und kommentierte ergänzend das Zeitgeschehen.
So entstand ein packendes Bild des vielfach gebildeten und ausgezeichneten Schriftstellers. Sucher selbst zählt Tschechow zu den „größten Dramatikern neben Kleist und Shakespeare“. Dabei war der Beginn des erfolgreichen Schriftstellers ganz und gar nicht auf Rosen gebettet. Aus der Armut in der südrussischen Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer arbeitete sich der frühere Sitzenbleiber als Nachhilfelehrer und Kleinhändler empor. Nach dem Abitur folgte das Medizinstudium mit Unterstützung der Stadtverwaltung. Bereits zu dieser Zeit verdiente er sich mit Feuilletons und Erzählungen unter Pseudonym („Mann ohne Milz“) und später als Moskau-Korrespondent bei Zeitungen Geld dazu.
Die Begegnungen mit dem Romancier Dmitri Grigorowitsch, der Tschechow ein herausragendes Talent bescheinigte, und dem Verleger Alexei Suworin legten in den späten 1880er-Jahren den Grundstein für den literarischen Aufstieg Tschechows. Reichlich Stoff lieferte dem Menschenbeobachter die größtenteils ehrenamtliche Arbeit als Arzt. Sie gab ihm – neben ausgeprägten Reisen – Einblick in die Lebensverhältnisse und Probleme der Bevölkerung und gesellschaftliche Strömungen. Tiefen Eindruck hinterließ bei ihm 1890 eine beschwerliche Forschungsreise nach Sibirien und auf die Gefangeneninsel Sachalin. Seine Berichte über unhaltbare Zustände in den dortigen Gefängnissen des Zarenreichs lösten immerhin die Aufklärung durch eine Kommission des Justizministeriums aus. Ebenso erwies sich Tschechow durch die Förderung von Schulen und Bibliotheken als Bildungsmäzen.
Einen facettenreichen Einblick gab die szenische Lesung von Wilkening und Sucher auch in die Welt des Theaters und der Bühne. Mit revolutionierenden Stücken wie „Die Möwe“ oder „Onkel Wanja“, die vom Scheitern großer Lebensentwürfe und tiefer Menschlichkeit zeugen, stieß Tschechow bei Lesern, Kritikern und Zuschauern erstmal auf Unverständnis. In Erinnerung geblieben ist er der Nachwelt jedoch als Kritiker und Erzähler „von fulminanter Kraft und außergewöhnlicher Poesie“, so Sucher. axel effner