Grassau – Akkordeon verbindet man mit Volksmusik, mit Tango, Pariser Flair und Astor Piazzolla, aber das Instrument kann so viel mehr. Das zeigte sich beim Abschlusskonzert der Meisterklasse Akkordeon in der Grassauer Villa Sawallisch.
Marko Ševarlic, international gefragter Akkordeonspieler und Professor an der Hochschule für Musik Baskenland, war hierbei nicht nur nahbarer Dozent, herausragender Solist und Duett-Partner, sondern gab auch den charmant-unterhaltsamen Moderator.
Quer durch
die Jahrhunderte
Der Blick ins Programm versprach eine Reise quer durch die Jahrhunderte. Für zeitgenössische Musik müsse man sich öffnen, hatte Andreas Hérm Baumgartner, Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender der Sawallisch-Stiftung, als Devise ausgegeben.
Und so ließ man sich gespannt auf das Abenteuer Akkordeon ein. Nach der sehnsuchtsvoll klingenden und mit Verzierungen reich gesegneten Sarabande aus der französischen Ouvertüre in h-Moll von Bach (1685 bis 1750), BWV 831, entführte Ševarlic auf den „High-Way for One“ von Adriana Hölszky (geboren 1961). Wer die Augen schloss, war mittendrin: War da nicht eine Hupe zu hören, drängelte da nicht jemand, bremste da nicht jemand nervös ab?
Die 18-jährige Špela Šemrl lud mit der Allemande und Sarabande aus der Französischen Suite in h-Moll, No 3, BWV 814, zum barocken Tanz ein: faszinierend elegant, anmutig, ein weiter, dynamischer Spannungsbogen.
Gänzlich anders dann „Contraria“ von Lojze Lebic (geboren 1934): Lautmalerisches „uiuiui“, schräge Akkorde, kantable Läufe, Klassik und Jazz, wahrlich ein Stück voller Gegensätze und gerade deshalb genial. Ben Trost, 16 Jahre jung, malte den Sommer mit dem ersten Satz aus Vivaldis (1678 bis 1741) „Sommer“ aus den Vier Jahreszeiten, op. 8. Die reizende Klangfarbe des Akkordeons suggerierte flirrende Sommerhitze, Vogelgezwitscher und aufkommenden Wind. Da verzieh man gern das bisschen Lampenfieber.
Der 19-jährige Bela Brichzin zeichnete mit seinem Akkordeon erst den Gesang einer verliebten Nachtigall nach (aus dem gleichnamigen Stück von Francois Couperin (1668 bis 1733), dann ging es nach Russland mit dem Präludium und der Fuge in D-Dur von Dmitri Schostakowitsch (1906 bis 1975). „Sprinkled efforts“ von Keiko Harada (geboren 1968) war kurzweilig und witzig: Passend zum Titel gab es gesprenkelte, getupfte Töne und gesungene Konsonanten, erfahrende Chorsänger fühlten sich ans Einsingen erinnert.
Und wieder ein Schwenk: Drei Lieder ohne Worte von Mendelssohn Bartholdy (1809 bis 1847) – melodisch, harmonisch, tänzerisch. Wunderbar kontrastreich ging es weiter. Aus dem fünfsätzigen „Et expecto“ von Sofia Asgatowa Gubaidulina (geboren 1931) trug Ševarlic den ersten Satz vor: Das war Gebet und Himmelsklang zugleich, das finale Glissando suggerierte „Auferstehung, ehe er „Zarte Gefühle“ mit dem gleichnamigen Stück von Joseph-Nicolas-Pancrace Royer (1703 bis 1755) weckte.
Das war barocke Sehnsucht zum Dahinschmelzen und gleichsam Ouvertüre für die Suite „Boško und Admira.“ Nikolaj Majkusiak (geboren 1983) hatte eigens für das bosnisch-serbische Duo und Ehepaar Dragana Gajic (Viola) und Ševarlic die tragische Geschichte von „Sarajevos Romeo und Julia“ vertont. Die Bosnjakin Admira Ismic und der Serbe Boško Brkic starben 1993 durch einen Heckenschützen in Sarajewo.
Man spürte die Liebe zwischen Boško und Admira, den Krieg, man fühlte die Angst, man hatte einen Flüchtlingsstrom vor Augen, und doch war da ein Funken Hoffnung. Darauf, dass auch Romeo und Julia die Flucht gelingen könnte.
Musikalische
Wucht
Aber dann: ein Schuss. Zitternd hauchten die beiden ihr Leben aus. Was für eine musikalische Wucht. So viel Gefühl, so viel Schmerz und Grausamkeit.
Das musste das Publikum erst einmal sacken lassen. „Neue Musik benötigt neue Instrumente“, hatte Ševarlic Krzysztof Penderecki (1933 bis 2020) während seiner Anmoderation zitiert. Unverständlich, dass dem Akkordeon bislang der Titel „Instrument des Jahres“ verwehrt wurde.
Dabei zeigte der Abend doch, dass ein Akkordeon ausreicht, um zauberhafte Klangeffekte mit Gänsehaut-Faktor zu erzeugen.