Die Poesie der Buchstaben

von Redaktion

Städtische Galerie Rosenheim zeigt Werkschau des Typografiekünstlers Josua Reichert

Roseheim – „Ich bin kein Typograf der Kunst macht, sondern ein Künstler, der Typografie macht“, so empfängt einen das Zitat von Josua Reichert im großen Eingangsraum der Städtischen Galerie. Hier wird schon auf vier großen vertikalen Fahnen die Verbindung von Text und Gestaltungskunst des Kulturpreisträgers der Stadt Rosenheim aus dem Jahr 2018 deutlich. Das Gedicht „unbekanntes drittes Auge“ von HAP Grieshaber thematisiert im Großformat Ästhetik und Wahrnehmung.

International
renommiert

Der vor vier Jahren verstorbene Druck-Künstler Reichert, der in Stephanskirchen lebte, war eine internationale Größe, Träger des großen Preises der Biennale Saõ Paulo und mehrfacher Teilnehmer der Documenta. Er galt als einer der bedeutendsten Künstler auf dem Gebiet der Typografie in Europa. Er hatte bei HAP Grieshaber in Karlsruhe studiert, dessen Stiftung in Reutlingen ihm 2010 den Jerg-Ratgeb-Preis verlieh.

In der Städtischen Galerie kommt die gesamte Bandbreite seines Schaffens zum Ausdruck, die Leihgaben stammen vom Kunstmuseum Reutlingen. Das Kuratorenteam Wolfgang Glöckner, Johannes Göbel und Elisabeth Rechenauer haben die Schwerpunkte von Werk Reicherts gekonnt in Szene gesetzt und den Werken ihren Raum gegeben.

Beim Rundgang gelangt man zunächst zur „Abc-Wand“ mit Alphabeten aus verschiedenen Kulturkreisen und mit deren kultureller Relevanz und Tradition. In Saal 3 unter dem Motto „Vater“ wird das besondere Verhältnis zum Ausbilder und Mentor HAP Grieshaber besonders deutlich. Weitere dieser „Väter“ waren der Niederländer Hendrik Nicolaas Werkman und der englische Bildhauer Eric Gill.

Ein Schaukasten mit Bildern einer Druckerpresse veranschaulicht das handwerkliche Vorgehen des Künstlers: „Es wird gestempelt, gewalzt und gerieben – solange bis das Blatt sagt: fertig“.

Einzelne Typografien kennzeichnen den Raum 4, es sind nicht Buchstaben, sondern Kunstwerke auf Basis von Buchstaben wie eine Komposition mit kopfstehendem „Y“ von 1970. Auch hier wird das interkulturelle Interesse Reicherts klar mit seinen Darstellungen beispielsweise kyrillischer oder hebräischer Buchstaben. Saal 5 mit der Vielfalt von Plakaten seiner Ausstellungen in verschiedenen Orten demonstriert seine Stellung in der Kunstszene und ist zugleich ein Fest fürs Auge.

Nah an
der Dichtkunst

Inhaltlich arbeitete Reichert stets nah an der Dichtkunst, sein persönliches Literaturinteresse und Spektrum reichte von Goethe bis Brecht, von der Bibel bis Solschenizyn. Brecht-Palimpseste entfalten mit der Gestaltung durch Reichert eine besonders starke Wirkung, ebenso wie ein Goethe-Zitat: „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei.“

Die Ausstellung macht Lust auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit Schriftgestaltung, Literatur und Ästhetik. Mit ihrer philosophischen Tiefe ist das Werk Josua Reicherts ein wohltuender Kontrast zu schnelllebigen Smartphone-Oberflächen.

Bis 10. November

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