Zwischen Wahn und Realität

von Redaktion

Innszenierung bringt mit „Next to normal“ ein Muscial über eine psychische Erkrankung auf die Bühne des Künstlerhofs Rosenheim

Rosenheim – „Patient stabil!“ So die prompte Reaktion des Arztes, als die Patientin erklärt, sie fühle gar nichts mehr. „Next to normal“, ein Musical von Brian Yorkey und Tom Kitt, war als Spielzeiteröffnung des Rosenheimer Ensembles Innszenierung im Künstlerhof zu sehen und besticht mit trockenem, morbiden Humor.

Das Licht bestrahlt die Darstellerin, erlischt mit einem Schlag, geht wieder an. Eine Mutter schilt liebevoll und auf Englisch ihren Sohn, der mal wieder zu spät heimgekommen ist. Vater und Tochter treten hinzu, eine Vorzeigefamilie, auf einmal spricht man Deutsch und lebt ein perfektes kleines Leben in einer amerikanischen Vorstadt. Doch warum tragen alle Anzüge wie in einer Klinik? Irgendetwas stimmt da nicht. Als die Tochter Nathalie den neuen Freund Henry zum ersten Mal nach Hause einlädt, wird erwähnt, dass der Bruder Gabriel bereits vor ihrer Geburt starb.

Die wahre Situation also: Hauptfigur Diana Goodman leidet an einer bipolaren Störung und lebt mit Wahnvorstellungen von ihrem toten Sohn. Judith Blauth spielt sie weich und subtil in den leiseren Momenten, dann wieder aufbrausend bis an die Grenzen. Was für eine Stimme, die das alles mitmacht, mal markerschütternd groß, mal fein und honigsüß. Die gesangliche Leistung ist – auch ausdauertechnisch – hervorzuheben und auch die Textverständlichkeit vortrefflich. Hin- und hergerissen ist die Matriarchin zwischen dem Wunsch nach einem „normalen Leben“ für ihre Tochter und der alles überstrahlenden Liebe zum toten Sohn. Dieser tritt in Form eines jungen Manns (Niklas Schinke) auf, beschwört mit seiner fesselnden, magnetischen Präsenz den „Tod“ aus dem Musical „Elisabeth“ herauf. Sein wiederkehrender Song „I’m Alive“ hat eine frenetische Energie.

Der überforderte Ehemann Dan liebt Diana und versucht, ihr zu helfen, wobei er seine eigenen Gefühle hinten anstellt. Robert Gregor Kühn hat in dieser Rolle strahlende Momente, die berühren und nachwirken. Die verborgene Verletzlichkeit der Figur, das schlussendliche Versagen an den eigenen Bemühungen, ist nachvollziehbar.

Als Nathalie hat Pia Niederecker viel zu schreien. Die vernachlässigte Tochter versucht alles, um gesehen und gehört zu werden. Sie hat ihren Part zu spielen in dieser Familie, in der es ständig um das Wohl der Mutter geht. Aber sie muss ihren eigenen Weg finden. Nathalies Freund Henry, empathisch und mit reiner Stimme verkörpert von Manuel Zach, ist für sie da. Souverän agiert Daniel Hutter in einer Doppelrolle als die zwei Ärzte: grotesk, professionell distanziert, von kaltem Kliniklicht angeleuchtet.

Songs und Dialoge gehen fließend ineinander über. Die Band unter Alexander Schmid, in OP-Hemden gehüllt, untermalt den Gesang atmosphärisch, gefühlvoll und mit viel Pep. Der kantige Rock-Sound deckt die ganze Bandbreite der Emotionen bis hin zur extremen Wut und Verzweiflung ab.

Am Anfang des zweiten Akts steht ein starkes Bild, wenn hinter dem Vorhang die Elektroschocktherapie abläuft. An diesen veralteten Behandlungsmethoden erkennt man, dass „Next to normal“ 2008 uraufgeführt wurde und eine frühere Fassung bereits 1998 veröffentlicht wurde.

Natürlich könnte das Stück allein schon durch die Thematik überwältigen. Und doch fühlt man sich als Zuschauer nie überfordert oder belehrt. Das ist vor allem der einfühlsamen Regie von Sebastian Kiesser zu verdanken, der auch für Bühne und Licht zuständig ist. Er lässt seine Figuren Ballett tanzen, vielseitig interpretierbare rote Fäden über die Bühne spannen oder einander in Bänder wickeln, die Koexistenz von Wahn und Realität clever und eindrucksvoll beleuchtend. Das alles ist betörend in der schlichten Aussagekraft und Unaufdringlichkeit. Mal gehen die Darsteller vom Singen regelrecht ins Schreien über, in der nächsten Sekunde sprechen nur die Augen und die kleinste Bewegung hat die größte Aussagekraft.

Ohne zu viel vorwegzunehmen: Am Schluss dieser Geschichte, in der wir einen so tiefen Einblick in das Innenleben der Figuren bekommen haben, werden die Karten neu gemischt. Weder ein vor Dramatik triefendes Ende noch ein Glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage kann die Lösung sein. Und genau hier scheint die Botschaft am deutlichsten hervor. Antonia Kuhn

Am 29. September

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