Rosenheim – Stefan Bollmann ist Autor einer fesselnd geschriebenen Goethe-Biografie, die sich mit den Naturforschungen des Dichters beschäftigt, sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und der Alternativkulturen. Bollmann promovierte über Thomas Mann. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt. Auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim hält der gebürtige Rheinländer am Mittwoch, 11. Dezember, um 19.30 Uhr im Künstlerhof am Ludwigsplatz einen Vortrag mit dem Titel „Goethe und die Natur.“ Thema ist Goethes Erfahrung der Natur mit Bezug zu seinen literarischen Werken. Das OVB führte mit dem Autor vorab ein Interview.
Wie ist Ihre intensive Beschäftigung mit Goethe entstanden?
Gelesen habe ich Goethe während meines Literaturstudiums: „Die Leiden des jungen Werthers“, „Die Wahlverwandtschaften“, „Wilhelm Meister“, „Faust“, die Gedichte – auch Seminare dazu besucht. Eine neue Beschäftigung setzte dann vor zehn Jahren ein, als ich eine kleine Goethe-Biografie schrieb: „Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist“. Den Titel hatte ich mir von Loriot stibitzt. Das Buch behandelte Goethes Leben wie einen Ratgeber: Was können wir heute noch von ihm für unsere Lebensführung lernen? Durchaus ernsthaft, aber so ernst dann doch wieder nicht. Bei den Veranstaltungen, die ich zu dem Buch machen durfte, wurde mir häufig die Frage gestellt, warum Goethes Naturforschung bei mir wie in den meisten anderen Goethe-Biografien nur ganz am Rande vorkäme. Und da ich zu dieser Zeit Lektor für Naturwissenschaft beim Verlag C.H. Beck war, ergab sich daraus eine reizvolle Aufgabe. Dass das Buch dann so umfangreich werden würde, konnte ich damals noch nicht absehen.
Warum wurde Goethe als Naturforscher bisher kaum wahrgenommen?
Wurde er schon. Zunehmend allerdings in einer Weise, die ihn in die esoterische Ecke gerückt hat. Dafür ist vor allem Rudolf Steiner verantwortlich, der Ende des 19. Jahrhunderts Goethes Schriften zur Naturwissenschaft zum ersten Mal im Zusammenhang ediert hat. Wenige Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1869, hatte „Nature“ – neben dem „Scientific American“ bis heute die einflussreichste naturwissenschaftliche Fachzeitschrift – ihre erste Ausgabe noch mit einem Text aufgemacht, der damals klar Goethe zugeschrieben wurde, das berühmte „Fragment über die Natur“. Heute wissen wir, dass andere zumindest daran mitgeschrieben haben. Aber Goethe war einige Jahrzehnte nach seinem Tod in der Naturwissenschaft ein klangvoller Name. Dass er dann, ganz im Gegensatz zu seinem Selbstbild, zunehmend als naturwissenschaftlicher Dilettant angesehen wurde, hat auch damit zu tun, dass wir seine Forschungen nicht aus ihrer Zeit heraus verstehen – ganz anders als seine literarischen Werke. Das müssen wir aber, wenn wir ihnen gerecht werden wollen. Das hole ich in meiner Biografie nach.
Haben Sie neue Erkenntnisse zu Goethes Naturforschungen gewonnen?
Ich gehe in meiner Biografie ja so weit, dass ich sage, man kann Goethes Leben auch dann spannend und mit Gewinn erzählen, wenn man den Naturforscher ins Zentrum stellt und den Dichter und den Politiker, der er ja auch noch war, an den Rand rückt. Vor allem aber glaube ich, zeigen zu können, dass Goethes Forschungen zur Mineralogie und Geologie, zur Botanik, zur Anatomie, zur Farbe und zur Meteorologie und zum Klima nicht Bruchstücke sind, sondern in einem Gesamtzusammenhang stehen, mit dem Plan, ein neues Bild der Erde als unseres Heimatplaneten zu entwerfen. Goethe selbst sprach von einem „Roman über das Weltall“. Alexander von Humboldt hat diesen Plan Goethes dann in seinem „Kosmos“ aufgegriffen und ihn zu Ende geführt.
Ist Goethe in der heutigen Zeit noch aktuell?
In dem gerade beschriebenen Sinne meines Erachtens sogar hochaktuell. Darin steckt das Projekt einer grünen, einer ökologischen Naturwissenschaft. Er ist aber auch als Dichter noch aktuell. Nehmen Sie nur seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ von 1809. Es ist nicht nur ein Buch, das mit Hilfe der Chemie seiner Zeit die Liebe als Naturgeschehen analysiert, sondern einer der ersten Romane, dessen Protagonisten nicht junge Leute sind, sondern in ihrer Lebensmitte stehen und sich dauernd im Krisenmodus befinden.
Was hat Sie an Goethe am meisten fasziniert?
Es ist nicht sonderlich originell, wenn ich sage: seine Vielseitigkeit. Aber auch sein Selbstbehauptungswille. Goethe ließ sich nicht so leicht von etwas abbringen. Dabei war er kein sturer Kopf; vielmehr unendlich interessiert, immer bei der Sache, bei der auch blieb, weil sie ihn beschäftigte. Natur war für ihn nicht nur schön, sondern vor allem eine Herausforderung, die der Mensch zu bestehen hatte. Und Goethe war ein durch und durch sinnlicher Geist; er wollte alles sehen und anfassen, erst dann begriff er.
Der Goethe-Gesellschaft Rosenheim fehlen jüngere Mitglieder. Wie könnte man eine jüngere Generation für Goethe begeistern?
Ich habe da kein Patentrezept, aber ein Mittel könnte sein, die richtigen Texte zu lesen. Die „Iphigenie“ als Schullektüre gehört wahrscheinlich nicht dazu. Aber vielleicht seine leider nicht so bekannten „Briefe aus der Schweiz“, in denen er die einige Monate dauernde Schweizerreise schildert, die er als 30-Jähriger zusammen mit dem Herzog Carl August unternommen hat. Sie führt nicht nur zu berühmten Menschen und Orten, sondern etwa auch auf einen Gletscher und gipfelt in einer hochriskanten, im November unternommenen Bergtour durch Eis und Schnee. Goethe war auch ein ausgezeichneter „nature writer“, wie wir heute sagen. Er hat das Genre in der deutschen Sprache begründet und ist bis heute einer der wenigen geblieben, die es darin zu etwas gebracht haben. Wer nur den Klassiker sieht, hat von Goethe nichts begriffen. Er selbst hat sich ausdrücklich dagegen verwehrt, als Meister verstanden zu werden, er wollte in erster Linie Anreger sein, hat von sich selbst sogar als „Kollektivwesen“ gesprochen.
Interview: Georg Füchtner