Rosenheim – Der Moment, auf den die fünf auf der Bühne über ein Jahr lang hingearbeitet haben und auf den die 4000 Menschen im Publikum schon Monate hinfiebern, geht schief. „Kaffkiez“ prangt in riesigen schwarzen Buchstaben auf dem Vorhang, der in der abgedunkelten Auerbräu-Festhalle vor der Bühne hängt.
Gerade noch läuft erwartungsvolle Musik, dann ein einzelner Scheinwerfer: Die Silhouette von Johannes Eisner singt die ersten Zeilen und mit dem Schlagzeugauftakt soll der Vorhang fallen, die Band freigeben und das Konzert entfesseln. Aber ein paar Klammern an der Hallendecke scheinen das nicht mitbekommen zu haben – ein Teil des Vorhangs fällt, doch ausgerechnet in der Mitte bleibt er hängen – und muss runtergezogen werden.
„Der Vorhang
fällt – oder nicht“
„Der Vorhang fällt – oder eben nicht“, sagt Sänger Johannes Eisner in der Pause zwischen zwei Liedern. Er nimmt es mit einem Grinsen, was auch sonst. In den vergangenen vier Jahren hat Kaffkiez gefühlt jede Stadt in Deutschland, Österreich und der Schweiz schon bespielt, keine Festivalwiese war vor den Rosenheimern sicher.
Für die Rückkehr in die Heimat, inzwischen schon eine Weihnachtstradition, wurde seit einem Jahr Werbung gemacht, am Samstag (21. Dezember) ziehen sie nun in die Auerbräu-Festhalle ein. Die Erwartungen, wohl vor allem der Band an sich selbst, sind riesig. Ein paar Tage vorher, Interview mit Johannes Eisner: „Es ist ein guter Mix aus Aufregung und Vorfreude“, sagt der Sänger am Telefon, der da wohl noch keine Gedanken an Bühnenvorhänge verschwendet. „Im Vergleich zu den vergangenen Jahren wollen wir noch mal einen drauflegen – und Momente schaffen, die im Kopf bleiben.“
Natürlich war das Ballhaus, wo die Band noch im vergangenen Jahr spielte, schon damals zu klein für Kaffkiez. Drei aufeinanderfolgende Abende vor Weihnachten waren ausverkauft. Der Umzug in die Auerbräu-Festhalle war alternativlos. „Wir wurden auch gefragt, ob man die Show nicht in München spielen könnte. Aber es sollen ja alle Freunde und Verwandten kommen. Weihnachten verbringt man doch mit der Familie“, sagt Eisner.
Große Hallen sind aber schwierig: Trägt sich die Stimmung bis in die hintersten Ecken, weit weg von der Bühne? Nach ein paar Liedern ist klar: Das wird kein Problem. Selbst in den letzten Reihen tanzen die Menschen, klatschen mit und holen die Handys raus. Als die ersten Takte der Ballade „Zum ersten Mal Nice“ erklingen und Eisner auffordert, die Taschenlampen anzumachen, erhellt sich die ganze Decke der Festhalle. Und lagen sich gerade noch alle in den Armen, geht es direkt im Anschluss mit dem energiegeladenen Song „Frei“ weiter – die Halle springt und singt mit. Es sei „mit der surrealste Termin“, den die Band dieses Jahr absolviere, sagt Eisner im Scheinwerferlicht. Homecoming, Familienfeier, zu Weihnachten gemeinsam singen – es sind viele Vergleiche, die er zieht, so als wären da nicht 4000 Menschen. Die Bühne sieht aus wie ein Bahnsteig – aber auf dem Schild, wo normalerweise der Städtename steht, liest sich heute „Zuhause“. Eigene Rosenheim-Shirts wurden produziert, eins davon wird verschenkt.
Ironischerweise stehen Eisner, Keyboarder Johannes Gottwald, Bassist Benedikt Vodermaier, Schlagzeuger Niklas Mayer und Gitarrist Florian Weinberger nur ein paar Meter Luftlinie von dem Ort entfernt, wo vieles anfing: Dem Karolinen-Gymnasium, wo drei von ihnen zur Schule gingen und sich als Schülerband gründeten. Kaum einer hätte geglaubt, dass aus diesem Projekt eine Band wird, die man in ganz Deutschland kennt.
Kaffkiez hat ein Jahr hinter sich, wie es erfolgreicher kaum sein kann. Das zweite Studioalbum „Ekstase“ erschien im Januar und stieg bis zu Platz drei der deutschen Albumcharts auf. Sie spielten Tourneen und Festivals, darunter ihr bisher größtes Konzert auf dem Tollwood in München. „Nach diesem Jahr überwiegt die Dankbarkeit – wir waren in den Top drei der Albumcharts und haben unsere größten Shows bislang gespielt“, sagt Eisner am Telefon.
So ein Jahr fordert, jedes Konzert kostet Kraft. „Bis jetzt gab es kaum Verschnaufpausen, wir freuen uns alle auf einen Jahresabschluss“, sagt Eisner. Es soll 2025 daher ruhiger werden, schon früh kündigte Kaffkiez an, keine Tour zu spielen.
„Die letzten Jahre haben wir ganz Konzertdeutschland abgegrast“, sagt Eisner. Sie selbst haben mit „Alles nur gelogen“ einmal ein Lied geschrieben, das diese negativen Seiten des Musikerlebens aufgreift. Aber die Konzerte sind in der DNA von Kaffkiez, jeder Song muss auf der Bühne funktionieren. Deshalb soll die Pause nur auf Zeit sein: „Wir wollen uns und den Leuten Zeit geben, wieder hungrig zu werden.“
Aber Kaffkiez war schon immer nicht nur die große Party, schon lange gehen sie den Balanceakt zwischen Gesellschaftskritik und Popmusik. „Das neue Album war musikalisch noch mal etwas erwachsener, aber ohne das Augenzwinkern zu verlieren“, sagt Eisner am Telefon dazu. „Bei Kaffkiez kann man tanzen und alle Sorgen verlieren, aber auch still auf die Texte hören. Es ist ein großer Luxus, den Menschen beides bieten zu können.“
Der Sänger wird auch in der Auerbräu-Festhalle noch mal ernst: Zum Schluss positioniert sich Eisner gegen rechts, wirbt für Toleranz und Offenheit. Das Publikum antwortet mit lauten „Nazis raus“-Rufen, während in Magdeburg zeitgleich Rechtsextreme aufmarschieren. Als Eisner den letzten Song „Mut“ ankündigt, wünscht er allen in der Halle den Mut, einzugreifen, wenn Verwandte beim Weihnachtsessen rechte Thesen verbreiten.
Kaffkiez und das Publikum, das ist eine besondere Beziehung, vor allem in Rosenheim. Einige waren schon dabei, als die Band noch – nicht besonders erfolgreich, wie Eisner beteuert – Lieder anderer Künstler coverte. Viele gehören zu den ersten Hörern, als Kaffkiez 2020 auf der deutschen Musiklandkarte auftauchte.
Große Shows
sind magisch
An diesem Abend in Rosenheim wird klar: Obwohl die Band einst den Namen Kaffkiez wählte, weil sie aus dem „Kaff“ der bayerischen Provinz in die „Kieze“ der Großstädte wollte, ist ihnen das „Kaff“ immer noch wirklich wichtig.
„Ich freue mich auf den ersten Blick, den man aufs Publikum erhascht“, sagte Eisner Tage vor dem Konzert. „Bei so großen Shows ist das magisch.“ Das lief nun etwas schief. Aber kein Problem – man ist ja bei der Familie.