Rosenheim – „Flanieren und marschieren“ lautete das Motto in der Vetternwirtschaft, wo das „Sendlinger Revolutionsensemble“ einen Abend mit Texten und Musik aus der Weimarer Zeit gestaltete. Mit dabei waren die aus der hiesigen Theaterszene bekannten Akteure Johanna Weiske (Gesang) und Dominik Frank (Lesung und Zigarettenrauch). Für die instrumentale Begleitung sorgten Andreas Porsch (Blasinstrumente) sowie Jakob Greithanner, David Roesner und Thomas Schneider an den Gitarren, teils elektrisch verstärkt.
Text und Musik wechselten sich im Ablauf des gut anderthalbstündigen Programms ab, was sich gut ergänzte. Sowohl die von Frank gekonnt vorgetragenen Texte als auch die Chansons erforderten eine gewisse Aufmerksamkeit bezüglich sprachlicher Feinheiten und Anspielungen, die manchmal charmant-humorvoll, teils auch sarkastisch angesichts der Zeitumstände ausfielen. Gleich zum Einstieg berichtete Harry Graf Kessler in seinen Tagebüchern aus den Jahren 1931/32 über Vorbereitungen zum Bürgerkrieg von links und rechts, mit der „Schwarzen Reichswehr“ auf der einen und der „Rotfront“ auf der anderen Seite. In den Liedern kam viel Atmosphärisches aus der Zeit zum Tragen, großstädtisches Leben in Berlin, Lasterhaftigkeit und Freiheit im Nachtleben. Mit „Berlin auf der Tauentzien“ von Willy Rosen stieg Johanna Weiske ein. Dem Komponisten Rosen nützte seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg nichts – er war jüdischer Abstammung, erhielt von den Nazis Auftrittsverbot und starb vermutlich bereits auf dem Transport nach Auschwitz.
Die spannende Auswahl aus Tagebüchern und Essays umfasste auch einen Text von Egon Erwin Kisch: In einem Beitrag aus dem Jahr 1920 schrieb er: „Ganz Westdeutschland gleicht einem Pulverfass, dem das Fass fehlt.“ „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“ war ein bekannter Schlager der Zeit mit selbstbewusst-emanzipatorischem Charme, im Original gesungen von Claire Waldoff und in der „Vettern“ interpretiert von Weiske. Öfter gab es Zwischenapplaus der konzentriert zuhörenden Gäste. „Kaspar Hauser“ alias Kurt Tucholsky sorgte für satirische Inhalte mit einem Schulaufsatz zum Vergleich von Goethe und Hitler.
Und mehr als einmal konnte man Parallelen zur aktuellen politischen Situation in Deutschland und Europa feststellen, beispielsweise mit Ernst Toller: „Heute stehen wir vor einem Schutthaufen der Revolution, in sieben Ländern regieren die Faschisten (…), wir stehen vor einer Herrschaftsperiode der Reaktion.“
Die gelesenen Texte, die Chansons und die Begleit-Band entfalteten in der Kombination eine wuchtige Wirkung, die zum Nachlesen im informativen Programmheft reizte. Im Auftrittskalender des „Sendlinger Revolutionsensembles“ ist noch Platz für weitere Termine. Vor allem Schulen sollten in Zeiten von „Tik-Tok“, Verzicht auf Faktenchecks und Geschichtsvergessenheit eine Buchung der Gruppierung in Erwägung ziehen.Andreas Friedrich