Chiemgau – Dass in Krimis die Verbrechen aufgedeckt werden, liegt im Wesen dieser Gattung. Auch dass es um Tragik und Emotionsausbrüche geht. Wie das jedoch beschrieben und zur Spannungssteigerung eingesetzt wird, bestimmt das Talent des Autors. Florian Degenhart, der Autor des neu erschienenen Alpen-Krimis „Letzter Blick zum Wendelstein“, besticht in seinem Debüt-Roman mit einer Wahrnehmung, die er mit akribischer Genauigkeit in erzählende Worte überträgt. Der Leser wird detailreich über die Szenerien geführt, als würde sich eine Kamera langsam von einer Seite zur anderen bewegen. Ob in der Bergwelt rund um Bayrischzell oder in den jeweiligen Räumen des Kriminaldezernats in München, im Laden des Buchhändlers, wo die Ermordete gearbeitet hat, oder im Krankenhaus von Bad Tölz, wo ihre Freundin als Krankenschwester arbeitet: Jedes Detail darf aufblitzen und könnte in diesem Augenblick eine Rolle spielen oder eben auch nicht.
In viele Richtungen ermitteln die Kommissare und Kommissarinnen, und der Leser bleibt lange im Dunkeln über den wahren Ausgang, während die Spannung immer mehr steigt, bis man die Seiten quasi nur noch überfliegt, um endlich zu erfahren, wer sich diese ungewöhnliche Todesart der Kreuzigung ausgedacht hat und brutal genug ist, sie ein zweites Mal durchexerzieren zu wollen. Von wo aus erhascht die Tote vor ihrem Tod einen letzten Blick zum Wendelstein? Schon der Titel verursacht Gänsehaut.
Trotz der Tragik gibt es auch Komik, und manchmal darf lauthals aufgelacht werden: Dafür sorgt Paula, die Tochter eines der Ermittler, die sich in altkluger Manier mit der Vermieterin der Wohnung, in der sie mit ihrem Vater lebt, hervortut und der alten Dame Absurditäten als Wirklichkeit verkauft. Diese ihrerseits kann keinen klaren Gedanken fassen und verzettelt sich in einem Gedankenkarussell, wenn sie eine Situation beschreiben soll. Reinstes Kabarett!
Gesellschaftliche Strömungen – politische Vorurteile, Bedeutung von Youtube und Google, sogar Pornografie – tauchen ebenso auf wie Gewohnheiten oder Geschichtliches zur Stadt München, so dass auf diesen Krimi bisweilen zutrifft, was für gute Literatur gilt: Sie sollte nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich sein. Das sachbezogen Lehrreiche ist dabei jedoch nie moralisierend, sondern immer aus dem Blickwinkel der jeweils handelnden Person, die über ihre Gedanken manchmal auch in einem inneren Monolog sinniert. Die Beleuchtung psychologischer Hintergründe beim verdächtigen Buchhändler oder beim vermeintlichen Freund der Ermordeten, bei der Charakterisierung der verschiedenen Personen und vor allem beim vollkommen unerwarteten Täter lassen zwischenmenschlich-Tiefgründiges aufblitzen.
Szenenwechsel finden mit jedem Kapitel statt. Und gegen Ende ist die junge Polizeimeisterin selbst in Lebensgefahr und kann sich und eine andere junge Frau nur durch einen Schuss aus ihrer Dienstpistole retten. Hier könnte der Krimi zu Ende sein. Doch die Spannung darf sich im letzten Kapitel in einem anderen Zusammenhang auch wieder lösen und neu aufbauen. Das Zwischenmenschliche siegt. Auch in der Krimi-Geschichte geht das Leben (gedacht) weiter.
Brigitte Janoschka