Singt Josefine oder pfeift sie?

von Redaktion

Eröffnung der Wasserburger Theatertage mit Udo Samel

Wasserburg – Die 19. Wasserburger Theatertage begannen wie immer seit ihrer Gründung mit einer Lesung des Burgschauspielers Udo Samel. Diesmal war Franz Kafka dran mit seiner letzten Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse.“

Diese typisch kafkaesk-verrätselte Geschichte kann verschieden interpretiert werden, im Kern geht es aber um die Rolle der Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft, dargestellt am Beispiel der Maus Josefine, die als Sängerin auftritt und vom Mäusevolk verehrt wird, obwohl ihre „Kunst“ fragwürdig ist. Singt sie wirklich oder pfeift sie nicht vielmehr? Ist es ein „perlendes Pfeifen“, wie Josefine selber meint, oder eher ein stoßendes Pfeifen, wie die zuhörenden Mäuse meinen? Darüber hinaus pfeift sie auf Beifall und Anerkennung.

Eigentlich singt oder pfeift sie wie alle Mäuse, andererseits aber ist es eben doch nicht nur das alltägliche Pfeifen, was sie produziert, sondern „hier ist das Pfeifen freigemacht von den Fesseln des täglichen Lebens und befreit uns auch für eine kurze Weile“, wie die zu den Mäusen zählende musikkennerische Erzählerin formuliert. Josefines Pfeifen (oder Singen?) vermittelt den Zuhörern ein gesteigertes Daseins- und ein gemütvolles Gemeinschaftsgefühl, es wird zu einem Integrationsmedium und einem Katalysator kollektiver Identität: Josefinens Konzert ist „nicht so sehr eine Gesangsvorführung als vielmehr eine Volksversammlung“.

Für Josefine allerdings ist ihr Pfeifen ein kunstvoller Gesang mit Koloraturen – den sie zu verweigern droht, als ihre Forderung nach Arbeitsbefreiung von der Mäuseversammlung abgelehnt wird. Am Ende aber verschwindet Josefine, sie „wird fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald (…) in gesteigerter Erlösung vergessen sein“.

Nein, für uns Zuhörer wird Josefine unvergesslich bleiben, da sie von Udo Samel – mit einigen leichten Versprechern – so liebevoll-anteilnehmend geschildert wird. Er lockt die verborgene Komik des Textes hervor (soll doch Kafka beim Vorlesen seiner Texte selber gelacht haben!), ironisiert alles leise, schärft die vielen Pfeifen-Wortspiele, artikuliert akkurat, retardiert oft spannungssteigernd, moduliert seine Sprechstimme variabel, ja singt oft geradezu melodisch den Text. So wie er pfeifend und mit ausgebreiteten Armen die Bühne betreten hatte, so stellt er beim Lesen manchmal mimisch die erzählten Situationen nach, spitzt sein Mündchen, grinst ein bisschen oder hebt bloß die Augenbrauen oder blickt auffordernd ins Publikum: ein Vortragskünstler wie eben Josefine, nur mit viel mehr Aufmerksamkeit und Applausfreudigkeit des Publikums. Als Zugabe las er noch eine Künstlergeschichte von Kafka, nämlich „Erstes Leid“, in der ein Trapezkünstler merkt, dass er für seine Kunst ein zweites Trapez braucht.

Wasserburgs Bürgermeister Michael Kölbl und die Landkreiskulturreferentin Anke Hellmann, die danach die Theatertage offiziell eröffneten, versuchten erst gar nicht, sich mit Samels Vortragskunst zu messen: Kölbl erinnerte an den Gründer dieser Theatertage, Uwe Bertram, und lobte das gesamte Theaterteam, Anke Hellmann betonte den Mut der teilnehmenden bayerischen Privattheater, „krasse Themen auf die Bühne zu bringen“ und erinnerte an den Publikumspreis für die beste Aufführung, der am kommenden Sonntag überreicht werden wird.

RAINER W. JANKA

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