Die juristische und die wahre Wahrheit

von Redaktion

Kleines Theater – Kammerspiele Landshut zu Gast bei den Wasserburger Theatertagen

Wasserburg – Das angelsächsische und das deutsche Rechtssystem unterscheiden sich stark in der Rolle der entscheidenden Personen vor Gericht: In Deutschland ist die Rolle des Richters stark, in den angelsächsischen Gerichten die Rolle der streitenden Anwälte, die die Jury überzeugen müssen. Deswegen gibt es so viele dramatische Gerichtsszenen in englischen Filmen und Theaterstücken. Darauf beruht auch das Einpersonenstück „Prima Facie“ der australischen Dramatikerin Suzie Miller. „Prima Facie“ ist der Begriff für den ersten Anschein, der gilt, solange keine Gegenbeweise vorgelegt werden.

Die Star-Anwältin Tessa legt mit Genuss und rhetorischer Kunstfertigkeit solche Gegenbeweise vor, was heißt: Sie verwirrt die Zeugen so, dass sie sich in Widersprüche verwickeln – auch zum Beispiel Vergewaltigungsopfer, sodass die Vergewaltiger freigesprochen werden. Sie sucht ja nicht nach der wahren Wahrheit, sondern nach der juristischen Wahrheit. Doch dann wird die Staranwältin selber vergewaltigt, von einem Kollegen. Allerdings ist die Situation nicht ganz eindeutig zu beweisen und nun ist sie selber in der Rolle des Opfers, das ins Kreuzverhör genommen wird: Die Rollen haben sich umgekehrt und Tessa erlebt, wie man sich als Frau in einem Gerichtssaal fühlt, in dem alle Entscheider Männer sind.

Mit diesem Stück ist das „Kleines Theater – Kammerspiele Landshut“ zu Gast der Wasserburger Theatertage. Der Regisseur Sven Grunert bereitet die Bühne für seine Darstellerin Louisa Stroux: ein Bürotisch mit Laptop (der aber kaum benutzt wird), ein großes Gestell mit Spiegelalufolie (in denen sich die Zuschauer spiegeln: Es betrifft auch uns!), ein Mikrofon, das manche Passagen bedeutsam hervorhebt, und eine Videoleinwand im Hintergrund, auf dem immer wieder der zornesfaltige Moses von Michelangelo erscheint: das Urbild des (männlichen) Gesetzgebers. Louisa Stroux tritt anfangs in Robe auf, in Jeansjacke, wenn sie erzählt, dass sie ihre Kleinbürgerfamilie besucht, in elegant-schwarzer Jacke, wenn sie Party macht (Kostüme: Irina Kollek).

Von Anfang an beherrscht Louisa Stroux die Bühne, ungeheuer intensiv, energieprall und mit vollem Stimmeinsatz, den sie aber geschickt variiert je nach Abschnitten in ihrem Lebenslauf. Zuerst ist sie die strahlende Siegerin, die alle juristischen Kniffe beherrscht und alle Prozesse gewinnt, die auch hemmungslos stolz darauf ist – zumal sie, wie sie öfters betont, aus der Unterschicht kommt und sich alles mühsam erarbeitet hat. Umso bemitleidenswerter wird sie nach ihrer Vergewaltigung: Ihre anfangs so beherrschten Gesichtszüge entgleisen immer mehr, sie verliert ihre Beredsamkeit, stottert hilflos und ist nur noch ein zitterndes Häufchen Elend im Kreuzverhör, bei dem sie in alle Fallen tappt, die sie früher selber gelegt hat: „Ich habe die Kontrolle verloren!“ bekennt sie.

Louisa Stroux durchlebt all diese Phasen mit höchster Lebendigkeit und Natürlichkeit, mit fulminanter Dynamik und mimischer Inbrunst, sodass es mucksmäuschenstill wird im Publikum und sich fast niemand mehr traut, an seinem Aperol Spritz zu zuzeln. Als sie am Ende gelöst den brausenden und langanhaltenden Applaus entgegennimmt, ist man fast erstaunt, sie nach dieser auch körperlichen Anstrengung so vital zu sehen. Eine starke Schauspielerleistung in einem starken Stück – und eine starke Anwärterin auf den Publikumspreis.

Und wie geht das Stück aus? Wird ihr Vergewaltiger freigesprochen? Suzie Miller lässt das Ende offen. Im Ohr bleibt aber das Diktum, ja fast der Aufschrei der vergewaltigten Tessa: „Ich werde nicht schweigen! Irgendwas muss sich ändern!“

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