Chiemsee – „Vollendete Blüten ‚unvollendet‘“, titelt das Programmheft von Herrenchiemsee. Gemeint ist das Konzert der Klangverwaltung unter Kent Nagano und dem ebenso stimmkräftigen wie geschmeidig artikulierenden Chor.
Nun sind unvollendete Kunstwerke ja keine Ruinen, sondern eher Torsi, die oft herzbewegender sein können als bis ins Letzte ausgetüftelte Artefakte. Jedenfalls gilt das für Schuberts h-Moll-Symphonie, die jetzt musikwissenschaftlich korrekter als Nr. 7 kursiert (altgediente Schubert-Fans haben sie weiterhin als „Achte“ im Herzen verankert) und mit Mozarts „Großer c-Moll-Messe“. Dass der Spiegelsaal am Schluss tobte, lag auch an den exzellenten Interpreten, dem Orchester, das mit vollem Körpereinsatz agierte, den fulminanten Gesangssolisten und nicht zuletzt dem sehr jungen Chor mit dem originellen Namen „Lauschwerk“.
Die Melodien von Schuberts Achter, pardon Siebter, hat wohl fast jeder Musikfreund im Ohr. Kent Nagano verzichtete auf den Schleier pastellfarbiger Entrücktheit. Er ließ es mitunter im kräftigen Fortissimo „krachen“, um die bedrängenden Seelenzustände des Komponisten hautnah, ja drohend vorzuführen. Delikat zelebrierte das Orchester die von Schubert zauberhaft gemischten Farben, zart und fast unmerklich änderte sich die Klanglandschaft. Suggestiv das Aufrauschen der Streichertremoli, betörend die sehnsüchtigen Hornrufe und geradezu feinschmeckerisch die Balance zwischen Streicher und Holzbläser! Und Celli und Bässe führten mit sonorer Behutsamkeit ein ins Mysterium der „Unvollendeten“.
Nach der Pause – der Wettergott hatte ein Einsehen und ließ die Alphornbläser ohne Regenguss ihr löbliches Werk vollbringen – also Mozarts Große c-Moll-Messe, die trotz ihrer liturgischen Orientierung herkömmliche kirchenmusikalische Dimensionen ausweitet, oder darf man sogar sagen „transzendiert“? Nun kam der große Auftritt der Gesangssolistinnen (die Männer: Martin Platz als Tenor und Florian Götz als Bass sind in Mozarts Torso leider unterbeschäftigt): Die Sopranistin Elisabeth Breuer und Mezzo Olivia Vermeulen prägten mit stupender Technik und beseeltem, makellosem Gesang den „Gang der Handlung“. Gebannt lauschte man im „Kyrie“ und „Gloria“ den halsbrecherischen Koloraturen der Sängerinnen. Italienische Oper her oder hin, die Leuchtkraft und Natürlichkeit der Stimmen ließ keinen Gedanken an divahaften Pomp aufkommen. Jugendliche Hörer, wären sie denn im Publikum gesessen, hätten sicher bewundernd „Mega!“ gerufen.
Beim Abschnitt „Tu solus sanctus“ (Du allein bist der Heilige) durfte endlich der Tenor Martin Platz sich auf sehr überzeugende Weise Gehör verschaffen. Florian Götz konnte seinen wohltönenden Bass erst im „Finale“, dem abschließenden „Benedictus“ hören lassen.
Der Chor „Lauschwerk“ ist ein Projektchor, der sich ausnahmslos aus jungen, mehr oder weniger im Studentenalter befindlichen Sängern rekrutiert. Obwohl hinter dem Orchester platziert, also quasi mit dem Rücken zur Wand, erreichte nicht nur ihr glasklarer Gesang, sondern auch die Mimik das Publikum. Keine Phrase verschwamm im Ungefähren, jeder Einsatz war ein emotionales Erlebnis.
Und Maestro Kent Nagano? Unaufdringlich führte er seine Klangverwaltung mit wenig Gesten, aber modellierenden, eleganten Handbewegungen. Freundlich sorgte er für seine Schutzbefohlenen, die ihm mit Feuereifer auf der Spur blieben. Ein beglücktes Publikum verließ das frischgebackene Weltkulturerbe. Walther Prokop