Rosenheim – Mit seinem Gedicht „Auf dem See“ hat der junge Goethe ein Kunstwerk geschaffen, dessen Tiefsinn und ästhetische Schönheit Staunen und Bewunderung hervorruft. Der Kulturkritiker Rainer W. Janka hat sich auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim in einem fesselnden Vortrag, unterstützt durch zahlreiche Bilder, mit Entstehung, Bedeutung, Interpretation und Vertonung des Gedichts beschäftigt. Janka sprach vor zahlreichen Zuhörern im Künstlerhof am Ludwigsplatz.
Im Mai 1775 ist Goethe glücklich und unglücklich zugleich. Mit dem Drama „Götz von Berlichingen“ hat er Furore gemacht und mit dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ einen Bestseller geschrieben. Doch unglücklich ist er, weil er nicht nur widerwillig seinen Beruf als Anwalt ausübt und Ärger mit einer Publikation hat, für die er nicht verantwortlich ist. Er hat sich auch mit der reichen Bankierstochter Lili Schönemann verlobt, was er als eine Eingrenzung empfindet.
Als Goethe die Möglichkeit erhält, mit den Brüdern Stolberg weg von allen Zwängen in die Schweiz zu reisen, ist er begeistert. Seine Reiseroute führt ihn über Emmendingen, wo seine Schwester wohnt, und Straßburg nach Zürich. Dort macht er Station bei Lavater, der mit seiner Theorie der Physiognomik berühmt wurde.
Anschaulich beschreibt Goethe seine anstrengenden Bergtouren durch die wilde Natur, etwa auf den Rigi, auf dem die Wolken plötzlich auseinanderreißen und er „eine klare, herrliche, sonnenbeschienene Welt“ erlebt. Schließlich besteigen die Freunde den Gotthardpass. Nach Italien reist der Dichter aber nicht weiter, denn, so Janka, die Gefühle für Lili seien stärker als die Lockungen des Südens und zudem die eigene Lebenszeit Goethes dafür noch nicht reif.
Vermutlich inspiriert von Klopstock, schreibt Goethe nach Wein- und Weiberversen in sein Notizheft ein formal schon vollendetes Gedicht ein mit dem Titel „15. Junius 1775, aufm Zürichsee“, ein sogenanntes Gelegenheitsgedicht mit Datum und Ortsangabe. Ausführlich analysierte Janka das Gedicht in seiner endgültigen Fassung bezüglich der drei Strophen, drei Rhythmen und drei Gemütszustände. Das Anfangsbild stelle eine Hymne an die Natur dar, mit der sich der Dichter innig verbunden fühlt. In der zweiten Strophe denke das lyrische Ich an die Vergangenheit, biografisch an Lili, vor der Goethe in die Schweiz geflohen ist. Die dritte Strophe, wieder in einem anderen Versmaß, sei eine Mischung aus Reflexion und Lebensfreude. „Es ist ein Naturbild mit dem betrachtenden Menschen im Mittelpunkt“, erklärte Janka, „ein Naturbild mit vier aktivierenden Enjambements, die durch das Hinübergleiten in die nächste Zeile eine unwiderstehliche Dynamik entfalten.“
Die reifende Frucht, die sich im See bespiegelt und auf die das Gedicht schließlich hinzielt, sei Zeichen der Hoffnung auf Zukünftiges, das gut sein wird, zitierte Janka den Goethe-Forscher Karl Otto Conrady. Für Goethe werden die Erscheinungen in der Natur zum Sinnbild des Gelingens.
Ein Hörbeispiel der Vertonung durch Schubert zeigte, dass der Komponist die Kernaussage des Gedichts intuitiv richtig erfasst hat. Bariton Dietrich Fischer-Dieskau hat sie mit seiner klugen, klangschönen Interpretation zu einem geistigen Genuss gemacht. Georg Füchtner