Wiesn: Ohne e und ohne Haggerl

von Redaktion

„Wiesen“ – „Wies’n“ – „Wiesn“: Für die allermeisten der ausländischen Gäste auf der Rosenheimer und der Münchner Wiesn spielt weder die Schreibung noch die lokale Aussprache der betreffenden Örtlichkeit irgendeine Rolle: Sie gehen nicht aufd Wiesn, sondern aufs „Oktoubafest“ oder aufs „Häabstfest“. Für diese Klientel gibt’s da eher kein Problem mit dem W-Wort. Umso größer ist lange Zeit die Verwirrung bei den einheimischen deutschsprachigen Gästen gewesen, ganz egal, ob sie von der Waterkant oder aus Berchtesgaden kamen. „Wiesen? Wies’n mit Apostroph? Wiesn ohne Apostroph? Was soll hier die Mehrzahl? Das Herbstfest findet doch nur auf einer Wiese statt!“

„Wiesen“ verführte dank Mehrzahl-n dazu, an mehrere Wiesen zu denken, obwohl es nur eine Loretowiese (Rosenheim) und eine Theresienwiese (München) gibt.

„Bei „Wies’n“ meinte man, der Apostroph beziehungsweise das Haggerl stehe für ein ausgefallenes e. Das ist aber nicht der Fall, zumindest nach der Auffassung des Kutterlinger Sprachenprofessors Johann Höfer, der 1996 einen erfolgeichen Vorstoß gegen das Haggerl machte, der von fast allen Print-Medien und auch vom eher norddeutsch orientierten Duden übernommen wurde.

Aber warum steht bei der „Wiesn“ nicht nur in der Mehrzahl, sondern auch in der Einzahl ein n?

Ein standarddeutsches Äquivalent oder Gegenstück ist das Wort der „Schaden“, also auch mit n in der Einzahl. Die Duden-Erklärung lautet: „mittelhochdeutsch schade, Schade; das n in der Nominativform ist aus den obliquen Kasus übernommen“.

Zur Erläuterung: „Mittelhochdeutsch“ betrifft die Zeit von 1050 bis 1350. Der „Nominativ“ ist der erste Fall oder „Wer-Fall“. Die „obliquen Kasus“ – mit langem u – sind der zweite, dritte und vierte Fall. Und genau in diesen drei Fällen stand in der Einzahl nicht nur bei mittelhochdeutsch „schade“ ein n, sondern auch bei mittelhochdeutsch „wise“.

Aber im Unterschied zur später entstandenen Nominativform „Schaden“ fand die später entstandene Nominativform „Wiesen“ keine Aufnahme ins Standarddeutsche: Es blieb bei „Wiese“. Allein im bairischen Sprachraum war das n in den ersten Fall gerutscht. Resultat: „Wiesen“. Mit e vor dem n! Bestätigt wird diese Form auf -en im bairischen Ortsnamenbeleg „Biscolveswisen“ aus dem Jahre 1155 für den Ort Bischofswiesen, der auch heute noch auf -en lautet.

Also doch „Wiesen“ und „Wies’n“? Nein: Die mittelhochdeutsche „Wiese“ verlor im Lauf der Zeit in Altbayern das -e und wurde dadurch zur „Wies“ (Wieskirche, Feldwies). Oder sie übernahm im Nominativ das -en von den anderen drei Fällen, zuerst zwar noch das -en in der Schreibweise, aber nur das -n in der Aussprache. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert spricht man „Wiesn“ und schreibt das auch solchermaßen; jetzt sogar im Duden. Und die Printmedien sparen sich viel Platz: „Wiesn“ ohne -e und ohne Haggerl!Armin Höfer

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