Rosenheim – Vielleicht lag es an dem wenig weihnachtlichen Thema, dass zu dem Vortrag „Franz Kafka: In der Strafkolonie“ im Künstlerhof am Ludwigsplatz nicht sehr viele Zuhörer gekommen waren. Der Germanist Dr. Michael Schmidt erläuterte auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Rosenheim sachkundig Kafkas Erzählung und gab auch eine persönliche Interpretation.
Kafkas düstere Erzählung „In der Strafkolonie“, die bei der einzigen Lesung des Autors 1916 in München auf die Zuhörer eine starke Wirkung ausgeübt hat, handelt von einem Forschungsreisenden, der eine abgelegene Kolonie besucht und dort Zeuge einer bizarren Hinrichtung wird: Ein Apparat ritzt dem Verurteilten das Urteil stundenlang in den Körper, bis dieser stirbt und das Vergehen versteht. Der Offizier der Kolonie verteidigt die barbarische Maschine, die das alte Rechtssystem des verstorbenen Kommandanten verkörpert, während der Reisende zunehmend angewidert ist. Als die Maschine versagt, legt sich der Offizier selbst hinein, um das Prinzip zu demonstrieren, und wird sofort getötet, woraufhin der Reisende die Maschine zerstört und die Kolonie verlässt.
Kurz erläuterte Schmidt die Entstehungszeit der Erzählung. 1914 war für Kafka ein wichtiges Jahr. Er verlobt sich mit Felice Bauer, allerdings wird die Verlobung schon nach sechs Wochen wieder aufgelöst. Bei einer Aussprache mit seiner Verlobten plagen ihn Schuldgefühle, er fühlt sich gerichtet. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges lässt ihn erstaunlich unbeteiligt, er steht, wie der Forschungsreisende in der Erzählung, beiseite, mischt sich nicht ein. Alle Figuren der Erzählung haben keine Namen, sondern tragen nur die Bezeichnungen des Berufs. Der Forschungsreisende soll sich ein Bild von der Situation in der Strafkolonie machen.
Über das System der Strafkolonie hat Kafka Bescheid gewusst. Der deutsche Kriminologe Robert Heindl hat die Strafkolonien der Südsee mit ihrem Deportationssystem genau untersucht. Für Kriminelle sei das System eine menschliche Alternative zur Todesstrafe gewesen. So habe etwa Frankreich seine politischen Gefangenen zunächst nach Algerien, später nach Guyana verbracht. Kafkas Erzählung spielt in einem schwülen, heißen Klima, die Unterredungen zwischen dem Offizier und dem Forschungsreisenden finden in französischer Sprache statt, erwähnt werden verfallene Kolonialbauten,
Ausführlich erklärte Schmidt die dreiteilige Hinrichtungsmaschine. Der Schuldspruch wird auf den Körper des Angeklagten geritzt, die Hinrichtung dauert zwölf Stunden. Der Offizier, der die Hinrichtung leitet, ist zugleich Richter und Henker.
Der Kern der Geschichte sei, dass der neue Kommandant den Sinn und Zweck der Maschine infrage stellt, der Offizier aber nach wie vor an dem alten, brutalen System hängt. Der Offizier muss feststellen, dass er keinen Rückhalt mehr hat, sondern der neue Kommandant ihm sogar entgegenarbeitet. Der Forschungsreisende greift nicht ein, um den Tod des Offiziers zu verhindern. Vielmehr verlässt er Hals über Kopf die Insel.
Der Apparat sei laut Schmidt eine Metapher für einen unmenschlichen Beamtenapparat in einer inhumanen Arbeitswelt. Gehorsam gegenüber dem Apparat, Sicherheit, Geld und Bequemlichkeit werde eingetauscht für den Verlust von Freiheit und Persönlichkeit. Der Apparat verlange die Seele des Menschen, der dafür die Aussicht auf Karriere und Macht erhalte. Ein Ausbruch aus diesem zeitlosen System sei schwierig, denn er bedeute den Verzicht auf gutes Gehalt und Pension.
Georg Füchtner