Effenberg: „Im Juni muss es klick machen“

von Redaktion

Ex-Bayern-Profi spricht über die deutsche Nationalmannschaft vor der Heim-EM 2024

Kolbermoor – Stefan Effenberg hat etwas zu sagen. Das war schon zu Zeiten als Spieler so, als der 35-fache Nationalspieler, deutsche Meister, DFB-Pokal-Sieger und Champions-League-Gewinner (2001 mit dem FC Bayern, Anm. d. Red.) Wortführer in seinen Teams war und das ist auch nach seiner Karriere der Fall. Der 55-Jährige tritt als Experte im Fernsehen auf. Oder auch im Autohaus Eder in Kolbermoor, wo er im Rahmen einer Kundenveranstaltung zu Besuch war. Am Rande sprach er mit der OVB-Sportredaktion über die deutsche Nationalmannschaft und die Chancen für die Heim-EM.

Wie haben Sie die Nationalmannschaft unter Julian Nagelsmann bisher wahrgenommen?

Die ersten zwei Spiele in Amerika gegen die USA und gegen Mexiko waren okay. Viele haben mir gesagt, es war sehr gut. Das sehe ich ein bisschen anders. Die letzten beiden Spiele gegen die Türkei und gegen Österreich waren eine große Enttäuschung. Da sehe ich keine Weiterentwicklung. Wenn man den Worten von Julian Nagelsmann glauben kann, dann hat er jetzt Dinge erkannt und wird auch etwas ändern. Im Juni muss es klick machen.

Was denken Sie, woran das liegt? Ist das eine Mentalitätsfrage? Auf dem Papier ist ja die Mannschaft eigentlich stark.

Das ist schon richtig. Aber man muss das ja zusammenfügen zu einem Team. Ich vergleiche das immer gerne mit Marokko. Wie die bei der letzten WM im Kollektiv performt und alles reingeworfen haben. Dafür steht der Fußball ja eigentlich. Mit einer ungeheuren Kampfkraft, mit einer Zweikampfstärke, jeder für jeden. Und das sehe ich bei der deutschen Nationalmannschaft aktuell nicht. Das muss so passen, dass wir, die das Spiel schauen, eben das Gefühl haben: Da ist eine Mannschaft auf dem Platz, die alles gibt. Nicht für sich, sondern für das Land. Das habe ich in den letzten Monaten, vielleicht auch Jahren, in keinster Weise gesehen.

Kann die aktuelle Generation einen Titel gewinnen?

Wenn man den Fußball heute sieht, wenn das nur noch über Pass- und Laufwege geht und den Jungs alles mit dem Laptop gezeigt wird – manchmal ist eine einfache Ansprache besser als das zu verkomplizieren. Jeder spielt so ein bisschen für sich, jeder versucht zu glänzen, aber nicht mehr als Team aufzutreten. Und dann hast du eben die Ergebnisse, die wir gesehen haben. Wir sind nicht mehr da oben, wo wir mal waren. Wie vielleicht in den 90er-Jahren oder dann 2006 und 2014. Wir müssen uns hinten anstellen und wieder hart dafür arbeiten, dass wir in die Nähe der Weltspitze kommen. Und zwar mit einfachen Dingen.

Was die U17 jüngst in Indonesien gezeigt hat, war ja vielversprechend, oder?

Das tut Deutschland sehr gut. Das war herausragend, auch die EM nicht zu vergessen, die sie vor einem halben Jahr gewonnen haben. Dann jetzt die WM in Indonesien. Aber das heißt ja im Umkehrschluss nicht, dass das die Generation ist, die uns in sechs, acht oder in zehn Jahren den Titel bringt. Erst einmal müssen sie den Sprung zum Herrenfußball schaffen.

Sind die NachwuchsLeistungszentren nicht durchlässig genug?

Es gibt schon Vereine, die auf den Nachwuchs setzen. Es gibt auch viele Vereine, die es nicht können, weil so viel Druck drauf ist, dass sie gar nicht die Möglichkeit haben. Nehmen wir Bayern München: Da ist es natürlich schwierig, einen 17-, 18- oder 19-Jährigen zu bringen. Es gibt Ausnahmen – Musiala zum Beispiel. Es ist schwer für die Vereine, weil der Erfolgsdruck halt enorm ist und wenn du in den März kommst, wo die Spiele dann richtig hart werden und K.o.-Spiele anstehen, dann setzt du natürlich auf die Erfahrung, die man im Kader hat.

Wenn wir jetzt auf die EM zurückkommen: Glauben Sie an eine Wende bis zum Juni?

Ich hoffe es, und dafür bezahle ich auch gerne drei Euro ins Phrasenschwein: Die Hoffnung stirbt zum Schluss. Wir haben ja die Schotten in der Gruppe, wir haben die Ungarn und die Schweizer.

Das sind gute Lose, oder?

Ja, gute Lose. Also: Es ist auf jeden Fall machbar. Ich glaube, die Ansetzung gegen die Schotten zuerst ist ganz gut. Wenn du das Spiel gewinnst, dann kannst du hoffentlich diese Euphorie entfachen. Aber die Schotten musst du auch erst einmal schlagen. Da kommt eine Mannschaft, die vielleicht nicht von den großen Namen lebt, wie zum Beispiel Marokko bei der letzten WM. Aber: Wenn wir uns so präsentieren wie in den letzten Spielen, dann wird das auf jeden Fall eng.

Stichwort Euphorie. Vor der WM 2006 im eigenen Land gab es eine 1:4-Niederlage gegen Italien und dann 2:2 gegen damals noch nicht so starke Japaner. Im Turnier lief es ja dann doch gut!

Ja, das war aber taktisch. Das war alles taktisch.

Hatte das nichts mit der Euphorie im Land zu tun?

Im Eröffnungsspiel (Deutschland – Costa Rica 4:2, Anm. d. Red.) war es ja genau der Fall, wo es darum ging, diese Euphorie zu entfachen. Deswegen ist dieses Spiel gegen Schottland eigentlich das Allerwichtigste in den nächsten sechs oder sieben Monaten. Ist doch logisch. Du musst aber irgendwann mal eine Mannschaft finden, ein System finden. Das habe ich nach wie vor nicht gesehen. Also zumindest nicht in den letzten Spielen unter Nagelsmann. Er hat nach wie vor viel experimentiert, und das sollte nicht so sein. Du musst spätestens im März die Mannschaft so zusammenstellen, dass du, ich sage mal im positiven Sinne, einen Haufen hast, der zusammenhält und füreinander da ist. Anders wird es nicht funktionieren.

Braucht die DFB-Elf mehr Arbeiter anstatt die größten Talente?

Du musst Leute haben, die das unbedingt wollen und die alles dafür tun. Und ihr Herz auf den Platz lassen. Dann nehme ich vielleicht einen, der weniger talentiert ist, aber auf den ich mich verlassen kann, dass er für das Team arbeitet, auch wenn er nicht dieses großartige Talent ist.

Muss man da jetzt dann personell Änderungen ergreifen?

Natürlich. Das ist doch offensichtlich.

Wer würde das ihrer Meinung nach gut machen?

Das ist nicht meine Aufgabe. Aber es drängen sich ja gerade welche auf. Zum Beispiel ein Chris Führich oder Waldemar Anton, der eine herausragende Rolle für mich beim VfB Stuttgart auf Strecke schon zeigt und verantwortlich dafür ist, dass die Stuttgarter in der Defensive so stabil aussehen. Natürlich sind das Jungs, die auf jeden Fall eine Rolle übernehmen können. Die Entscheidungen treffen andere. Die müssen dann auch verantwortlich sein für das Ergebnis.

Artikel 1 von 11