Nach dem EM-Titel ab nach Rosenheim

von Redaktion

Vier heimische Fußballer haben es bislang in den deutschen Auswahlkader bei den Fußball-Europameisterschaften geschafft, drei sind dort auch zu Einsätzen gekommen. Die OVB-Sportredaktion erzählt deren EM-Geschichte: Tore, Tränen und Triumphe. Teil 1: Paul Breitner.

Rosenheim – Der Stellenwert der Europameisterschaft war 1972 noch gering. Das Endturnier wurde mit vier Mannschaften ausgespielt und der Gastgeber erst festgelegt, als die vier Teilnehmer feststanden. Und auch in Deutschland wurde die Meisterschaft der europäischen Verbände etwas stiefmütterlich behandelt. Vier Jahre zuvor war man in der Qualifikation gescheitert, ein mageres 0:0 auf einer Betonpiste in Albanien war der Grund.

Überhaupt hatte Deutschland zu kämpfen. Einerseits war der Fußball im Aufschwung. Die DFB-Auswahl hatte 1966 das WM-Endspiel erreicht und 1970 den dritten Platz bei den Weltmeisterschaften errungen, die Spiele – das Finale von Wembley oder das Jahrhundertspiel in Mexiko gegen Italien – sind heute noch legendär. Mit dem FC Bayern und den Himmelsstürmern von Borussia Mönchengladbach hatten sich prächtige Mannschaften entwickelt, die fast für ein Jahrzehnt in der europäischen Spitze wirbelten. Und es standen die Olympischen Spiele von München und die Weltmeisterschaft 1974 im eigenen Land bevor, in der bayerischen Landeshauptstadt wurde das Olympiastadion mit dem prächtigen Zeltdach gebaut.

Und doch herrschte Tristesse: Trotz der sehr guten Leistungen blieb der Nationalmannschaft bislang ein Titel verwehrt, man zehrte immer noch vom „Wunder von Bern“ 1954. Und die Bundesliga wurde von einem Skandal überschattet. Ein Jahr zuvor war der Abstiegskampf mit wöchentlichen Geldzahlungen und verschobenen Spielen zur Farce geworden und noch immer kämpfte der DFB mit der Aufarbeitung. Man hatte mit anderen Sorgen zu kämpfen, kein Wunder also, dass die EM-Endrunde gar nicht groß in den Planungen war. Das Finalturnier im Juni wurde zwischen dem 32. und 33. Spieltag eingebettet. Dass damit geplant werden konnte, brauchte es erst einen Befreiungsschlag. Und was für einen!

Nach einer durchwachsenen Qualifikationsrunde – unter anderem mit einem 1:1 gegen die Türkei und einem 1:0 über Albanien – wurde das Viertelfinale ausgelost. Und die deutsche Auswahl traf auf England. Der Aufschrei war groß, schlimmer hätte es Deutschland nicht treffen können. Zumal die Mannschaft von Helmut Schön ersatzgeschwächt zum Hinspiel nach London reiste. Doch es hatte sich im deutschen Team schon etwas entwickelt. Franz Beckenbauer spielte den Libero und musste nicht mehr im Mittelfeld den gegnerischen Spielmachern hinterher, wie 1966 noch gegen Bobby Charlton. Es kamen auch mehr Gladbacher dazu, etwa Günter Netzer, „Hacki“ Wimmer oder Jupp Heynckes. Und vom FC Bayern wurden zwei Jungspunde aktiviert, die sich im Herbst 1971 auf der Skandinavien-Reise bewährt hatten. Paul Breitner und Uli Hoeneß, Letzterer sogar noch als Amateur, weil er bei den Olympischen Spielen die bundesdeutschen Farben vertreten sollte.

Am 29. April war die Hoffnung allerdings gering, als die DFB-Auswahl im Wembley-Stadion auflief. Berti Vogts, Wolfgang Overath und Stan Libuda waren verletzt, Sepp Maier spielte angeschlagen. „Wenn wir da keine fünf Stück kriegen, dann haben wir ein gutes Ergebnis“, raunte Netzer seinem Kollegen Beckenbauer noch in der Kabine zu. Doch dann nahmen genau diese beiden das Heft in die Hand – und der deutsche Fußball hatte sein Momentum. „Ramba-Zamba-Fußball“ titelte die „Bild“ nach dem 3:1-Erfolg, dem ersten deutschen Sieg im Mutterland des Fußballs. Hoeneß hatte Deutschland in Führung gebracht, nach dem Ausgleich sorgten Netzer per Elfmeter und Gerd Müller für den Sieg, von dem Breitner sagt: „Zu diesem 3:1 kann es keine Steigerung mehr geben. Das war die beste deutsche Mannschaft aller Zeiten.“

Für Breitner, der für den SV Kolbermoor seine ersten Spiele bestritt, zählt der Erfolg im Wembley-Stadion „zu den fünf wichtigsten Spielen in meinem Leben. Wir waren die beste deutsche Mannschaft, die es jemals gegeben hat.“ Der gebürtige Kolbermoorer spielte als linker Verteidiger, schwärmte: „Wir hatten eine perfekte Symbiose aus jungen und alten Spielern, aus Künstlern und Arbeitern. Die Art und Weise, wie wir Fußball interpretiert haben, war fantastisch.“ Immer wieder klappte das Zusammenspiel zwischen Beckenbauer und Netzer, per Doppelpass suchten die deutschen Akteure den Weg nach vorne. Wenn Netzer mit langen, raumgreifenden Schritten und blonder, wehender Mähne durchs Mittelfeld stürmte, hatte Beckenbauer die Defensive organisiert. Und wenn der „Kaiser“ seinen Vorwärtsdrang hatte, dann war sich Netzer nicht zu schade und sicherte nach hinten ab. „Fast hätte ich manchmal auf dem Platz geklatscht, es war eine Freude“, erzählte Breitner. Und: „Der Sieg in Wembley hat den Geist dieser Mannschaft geprägt.“ Diese Mannschaft, die sich im Rückspiel mit einem 0:0 für das Endturnier qualifizierte. Und die sich dann nicht mehr aufhalten ließ.

Im Halbfinale am 14. Juni bezwang die DFB-Auswahl in Antwerpen den Gastgeber Belgien mit 2:1. Gerd Müller erzielte beide Treffer. Vier Tage später ebnete wieder der „Bomber“ mit seinem 1:0 nach einer knappen halben Stunde den Weg zum ersten großen Titel dieser neuen Generation. Breitner hatte zuvor schon eine gute Gelegenheit. „Der Verteidiger ,zauberte’ sich an drei Russen vorbei, spielte nach seinem Solo Doppelpass mit Uli Hoeneß, zog dann den Ball aber knapp am Tor vorbei“, berichtete Gerhard M. Gmelch im Oberbayerischen Volksblatt. Der hervorragend spielende Wimmer und erneut Müller stellten mit ihren Toren in der zweiten Hälfte den 3:0-Erfolg über die Sowjetunion sicher. Das Endspiel in Brüssel dominierte die deutsche Mannschaft. „Der beste Europameister, den es je gab“, titelte deshalb auch das OVB. Auch die internationalen Gazetten überschlugen sich in Lobeshymnen. „Vor dem Schauspiel der Kraft, Spurtschnelligkeit, Fantasie und Genialität muss man sich mit Respekt und Bewunderung verneigen“, schrieb der „Corriere dello Sport“ aus Italien. Der englische „Daily Mirror“ meinte: „So vollständig hat noch nie eine Elf ihren Gegner ausgespielt. Es war eine wahre Fußball-Demonstration.“

Lange Zeit zum Feiern blieb den deutschen EM-Helden nach dem Triumph am Sonntag nicht. Am Wochenende darauf stand der 33. Spieltag in der Bundesliga auf dem Programm. Und die sechs Bayern-Profis Sepp Maier, Paul Breitner, „Katsche“ Schwarzenbeck, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß und Gerd Müller waren bereits am Dienstagabend wieder gefordert. Sie traten mit dem FC Bayern zum Freundschaftsspiel beim TSV 1860 Rosenheim im Jahnstadion an – und alle sechs frischgebackenen Europameister standen beim 10:1-Erfolg über den Bezirksliga-Titelträger in der Startformation!

Das ist Paul Breitner

Breitners EM-Endrundenspiele

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