„Gegenpressing“ unter Kokospalmen

von Redaktion

Sechs Wochen bei der AAFP in Kolumbien: tolle Kicker, spannende Charaktere, prägende Erlebnisse

oder unter Blechdach.

Popayán/Rosenheim – 1:2 gegen Chelsea FC aus London, 2:1 über Brighton & Hove Albion und 0:1 gegen Valencia CF. Was klingt wie die Ergebnisse eines Top-Teams in der Champions League, ist die achtbare Ausbeute von jungen kolumbianischen Talenten der AAFP – der „Academia Alemana de Fútbol Popayán“ (Deutsche Fußball-Akademie Popayán). Die Südamerikaner haben Mitte August bei der traditionsreichen Next-Generation-Trophy, einem hochkarätigen U16-Turnier von RB Salzburg, erstmals europäische Spitzenfußball-Luft schnuppern dürfen. Für mich, Leon Simeth, Student, Mitarbeiter der OVB-Sportredaktion und Spieler beim TSV Wasserburg, ist es das erste Kennenlernen mit den „Chicos“ der Fußballschule aus Popayán gewesen. Denn eine Woche später würde ich nach Kolumbien fliegen, um mein sechswöchiges Studienpraktikum bei der AAFP anzutreten.

Der Academia-Gründer ist in der heimischen Fußballwelt kein Unbekannter: Ingomar Weiß, als Spieler und Trainer unter anderem für Rosenheim (1860 und SBR), Raubling und Kolbermoor aktiv, startete das Projekt in Popayán 2017 zusammen mit Daniel Neumüller. Das Ziel: Junge Kicker, vor allem aus den ärmeren Küstenregionen Kolumbiens, entdecken, ausbilden und ihnen den Weg zum Profi-Fußball öffnen. „Neben dem sozialen Charakter des Projekts ist der europäische Fußball die maximale Zielsetzung unseres Schaffens“, so Weiß, der als Nachwuchs-Coach bei den Sechzigern und den Münchner Löwen unter anderem Julian Weigl, Andreas Voglsammer und Raphael Obermair mitgeformt hat. „Es ist ein holpriger Weg, aber unsere Quote wird immer besser“, ergänzt der AAFP-Gründer.

Einige Talente der Fußballschule haben bereits den Schritt ins Ausland geschafft. Jedoch hat sich noch keiner auf internationaler Bühne einen Namen gemacht. Das soll sich ändern und daran wird hart gearbeitet. Ziel ist es, den physischen kolumbianischen Spielstil technisch-taktisch zu ergänzen und die Buben so auf den modernen europäischen Fußball vorzubereiten: Kontrolliertes Aufbauspiel, schnelles Umschalten und das deutsche Wort „Gegenpressing“ sind fester Bestandteil der AAFP-Philosophie.

Darüber hinaus schaut die deutsche Akademie objektiv aufs Große und Ganze. Denn im kolumbianischen Fußball zählt zumeist nur das Ergebnis: Bei einem Sieg ist alles herausragend – wenn man verliert, ist alles katastrophal. Ohne dabei die Teamleistung oder die Entwicklung der einzelnen Spieler zu betrachten.

„Mein“ erstes Training steht an. Voller Vorfreude marschiere ich am Morgen von meinem netten, kleinen Apartment im Zentrum Popayáns (zehn Euro die Nacht) quer durch die Stadt zum Trainingsplatz im Norden – vorbei an hunderten Händlern, die auf der Straße alles verkaufen, was man sich nur vorstellen kann: Mangos, Kokosnüsse, riesige Reissäcke, gefälschte Marken-Sonnenbrillen und -Sneaker sowie die allgegenwärtigen gelben Trikots der „Selección“. So bezeichnen die „Cafeteros“, wie die Kolumbianer in Südamerika genannt werden, ihre Nationalelf. Und über allem hängt der Geruch von frittiertem Hähnchen und „frischem“ Fleisch, das ungekühlt zur Schau gestellt wird.

Nach gut 20 Minuten bin ich da: Vor mir liegt ein kleiner Court mit Blechdach, auf dem nur einmal die Woche trainiert wird. Sonst geht‘s auf den großen Kunstrasen-Platz im Western Popayáns. Vor Beginn formt die Mannschaft einen Kreis und betet. Es folgt die Ansprache der Trainer. Dann darf ich mich vorstellen – dafür reicht mein Spanisch, das ich im Vorhinein gelernt habe.

Mit Englisch kommt man hier nicht weit: Nur knapp fünf Prozent der Kolumbianer sprechen die Sprache der „Gringos“. Und diese Minderheit lebt vor allem in den Millionenstädten Bogotá, Medellín oder Cali. Die Akademie-Kicker von der Küste können kein Englisch, zudem habe ich damit zu kämpfen, deren Dialekte zu verstehen. „Das geht auch mir nach sieben Jahren manchmal noch so“, lacht Ingomar Weiß.

Hart auf dem Platz,
eifrig im Unterricht

Aufwärmen, Passspiel, Vier-Gegen-Vier: Das ist das Standard-Programm auf dem kleinen Kunstrasen-Feld. Dabei fällt mir eines besonders auf: Es geht brutal zur Sache – in den Zweikämpfen raucht‘s und ich wundere mich, dass alle das Training heil überstehen. „Das ist normal“, betont Weiß. „Wir wollen eine hohe Intensität und Aggressivität haben. Sie hauen sich voll rein, bleiben aber fair.“

Während meines Praktikums in Popayán begleite ich morgens die Einheiten aller AAFP-Teams: U13, U15 und U17. Ich helfe als Trainer, Torwart-Coach oder kicke bei den Ältesten selbst mit. Nachmittags kommen individuelle Einheiten wie Techniktraining oder Schusstechnik hinzu.

Dreimal pro Woche gebe ich den Buben Englischstunden – damit sie beim Probetraining in Europa zumindest die Grundlagen beherrschen. Unterrichtet wird im Wohnzimmer des Hauses, in dem die Nachwuchskicker leben. Dort haben gerade so zehn „Schüler“ Platz, um an die Tafel zu sehen. Insgesamt wohnen in dem kleinen, dreistöckigen Häuschen 30 Spieler – zu viert oder sechst in einem Zimmer. Doch die jungen Kolumbianer sind froh und dankbar, unter diesen Umständen leben zu dürfen. Sie haben ein Dach über dem Kopf und bekommen täglich genügend zu Essen – nicht jeder Kolumbianer kann so behütet aufwachsen. In Zukunft sollen die Wohnverhältnisse in der Akademie besser werden: Ein Grundstück am Stadtrand Popayáns ist bereits gekauft und der eigene Rasenplatz reift heran. Der Bau des Internats soll Anfang nächsten Jahres starten. Die große Mehrheit der AAFP-Kicker wird aus armen Städten geholt, etwa aus den als Drogenhafen bekannten Tumaco und Buenaventura. „Oft holen wir die Buben aus ärmlichsten sozialen und familiären Verhältnissen heraus“, beschreibt Weiß die bescheidenen Lebensumstände in vielen Gebieten Kolumbiens. Öffentliche Sichtungen gibt es nicht. Das Risiko, überfallen zu werden, ist zu groß. Stattdessen pflegen Weiß und seine Kollegen enge Kontakte zu vertrauten Jugendtrainern aus verschiedenen Regionen. Dort scouten sie regelmäßig Talente.

Ich persönlich fühlte mich in Popayán permanent sicher, erlebte keine einzige brenzlige Situation. „Wenn man nicht dumm ist und es darauf anlegt, passiert einem auch nichts“, hat mir ein Einheimischer mit auf den Weg gegeben. Damit meinte er: Auf seine Wertsachen aufpassen und im Dunkeln nicht alleine in der Pampa unterwegs sein.

In den Englischstunden erfahre ich viel über die Nachwuchsspieler, ihre Hintergründe und baue Verbindung zu ihnen auf. Sie sind sehr interessiert und engagiert, eine neue Sprache zu lernen. Im Training auf dem Fußballplatz prahlen sie dann auch gleich mit neuen englischen Wörtern. Gerne übersetze ich spanische Sätze oder Wörter, die sie auf Englisch wissen wollen.

Dabei zeigen sich verschiedenste Persönlichkeiten: Manche schreiben Begriffe wie „contrato“ (Vertrag), „mucho dinero“ (viel Geld), „carros“ (Autos), „chicas“ (Mädchen) auf ihren Wunschzettel, andere interessieren sich eher für „amor“ (Liebe), „Alemania“ (Deutschland) oder „helado“ (Speiseeis). Die vielen Charaktere erkenne ich auch beim Training: Einige wollen danach Freistöße schießen, jonglieren oder einfach mit der Kugel Spaß haben – andere sind froh, wenn‘s aus ist.

Fleißige Arbeiter,
typische Kolumbianer

Vom Turnier in Salzburg sind mir vor allem drei Spieler im Gedächtnis geblieben: Torwart Juan Miguel Menza Potosí, Innenverteidiger Luis Mateo Rentería García und Kapitän Juan José Pacheco Torres. Keeper „Juanmi“ ist nicht ganz 1,80 Meter groß, dafür aber spielerisch brillant – und noch dazu ein sehr herzlicher Bursche. Linksfuß Mateo überzeugte in Salzburg mit seiner Schnelligkeit und Physis, doch bei ihm ist die Mentalität das Problem. Auf die klare Anweisung der Trainer – kontrolliertes Aufbauspiel – hört er nur selten. „Am liebsten schlage ich halt weite Diagonalbälle“, stellt er in einer Englischstunde klar.

Der kleine, quirlige Mittelfeldspieler Pacheco ist in Sachen Lernfähigkeit genau das Gegenteil: Als er zur AAFP kam, war er nur Durchschnitt, „mittlerweile ist er einer der besten“, lobt der U15-Coach Manuel Bravo den fleißigen 15-Jährigen, für den jede Einheit ein „Heimspiel“ ist. „Pache“ kommt als einer der wenigen aus Popayán.

Das Klischee vom eher locker-lässigen Kolumbianer, der lieber zur Cumbia die Hüften schwingt statt eisern zu trainieren, verkörpert schon eher Stürmer Jaider Córdoba Mena. Gleich im ersten Training erzählt er mir stolz von seinem Tor gegen Chelsea. Dass er eigentlich drei oder vier Buden hätte machen müssen, kommt nicht zur Sprache. Ich frage, bei welchem Verein er einmal spielen möchte. „In Saudi-Arabien“, antwortet er mit einem Grinsen im Gesicht. Und auf dem Platz? Da macht er – so ist mein erster Eindruck – was er will, bolzt von überall planlos aufs Tor und meckert seine Mitspieler an. Und dann die wundersame Wandlung: Eine Woche später ist er voll bei der Sache, rennt und ackert, legt vorm Tor uneigennützig quer oder schiebt das Ding cool ins Eck. Sein Potenzial ist nicht zu übersehen: Aus ihm könnte ein schneller, dribbelstarker und eiskalter Stürmer werden.

Beim südamerikanischen Turnier „Las Américas“ in Cali Anfang Oktober erreicht die AAFP von 48 Mannschaften das Finale, welches man im Elfmeterschießen verlor. Das bisher beste Ergebnis der deutschen Fußball-Akademie. Was mich besonders freut: Die Torjägerkanone sichert sich Jaider und Juan Miguel wird als bester Torwart ausgezeichnet.

Oft trainierte ich selbst bei der U17 mit. Nur beim Blick auf die Spielerpässe wäre aufgefallen, dass ich knapp acht Jahre älter bin – körperlich und technisch ist das schon Männerfußball. Doch bei der taktischen Disziplin hakt es noch. Oft bin ich bei Kontern gegen drei oder vier Angreifer auf mich allein gestellt. Geschenkt wird mir gar nichts. Im Gegenteil: Ihren „Profe Leon“ („Lehrer“, wie ich genannt werde) tunneln oder einmal richtig rasieren – was gibt es schöneres!

Kaum habe ich mich eingelebt und zu den „Chicos“ eine engere Bindung aufgebaut, muss ich ihnen vorm Training mitteilen: „Heute ist mein letzter Tag.“ Die Zeit ist wie im Flug vergangen und alles fühlt sich sehr vertraut an: exotische Früchte am Straßenrand, unzählige Motorräder und überall Musik – Tag und Nacht, bei Jugendlichen und Senioren, in Bars und in Banken. Alle haben den südamerikanischen „ritmo“ im Blut – und jetzt auch ich.

Viele AAFP-Kicker sind mir so richtig ans Herz gewachsen. Zum Abschied gibt es eine Überraschung: Nach der letzten Einheit veranstalte ich mit allen Spielern, die meine Schuhgröße haben, einen Wettbewerb. Jeder hat fünf Versuche: Elfmeter, Eins-Gegen-Eins gegen den Torwart, zwei Freistöße und ein Schuss aus dem Sechzehnerkreis. Wer die meisten verwertet, bekommt meine Fußballschuhe.

Fünf Tore macht niemand, also geht’s für alle mit vier Buden ins Finale. Dort setzt sich Keeper Juanmi durch. Er jubelt kurz – und sagt mir dann, ich solle meine Schuhe dem Zweitplatzierten schenken. Der würde meine „Guayos“ dringender gebrauchen. Eine tolle Geste, die mich sehr berührt. Jetzt hätte ich gerne 30 Paar Fußballschuhe. Denn am liebsten würde ich allen welche schenken…

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