Rosenheim/Kolbermoor – Wissen vermitteln, Werte bilden und ein „Wir“ leben: Das sind die Ziele des Projektes W³ der Gesellschaft zur Förderung beruflicher und sozialer Integration in Rosenheim. Die wöchentlichen Treffen bieten Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund eine Möglichkeit, sich über Erfahrungen auszutauschen, aber auch Traditionen und Normen der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen.
Integration und Gleichberechtigung
Kübra Kisla (23) liebt es, mit dem Motorrad durch die Stadt zu fahren. Sie mag die Geschwindigkeit, die Blicke, die sie auf sich zieht. Vor allem dann, wenn sie ihren Helm abnimmt. Denn die Rosenheimerin ist Kopftuchträgerin. „Viele sind überrascht, dass ich überhaupt Motorrad fahren darf“, sagt Kisla. Es sind Vorurteile wie diese, mit denen die junge Frau schon ihr ganzes Leben lang zu kämpfen hat. Und das, obwohl sie in Rosenheim geboren ist, bairisch perfekt beherrscht. Anders behandelt wird sie trotzdem. Zum einen aufgrund ihres türkischen Migrationshintergrundes, zum anderen, weil sie ein Kopftuch und lange Sachen trägt – auch im Sommer. „Viele stört es, dass ich meine Religion so stark auslebe“, sagt sie. Das Kopftuch abzulegen sei für sie keine Option. Sie will sich lieber für kulturelle Integration und Gleichberechtigung einsetzen, will für mehr Toleranz kämpfen.
Es sind Dinge, die auch Cornelia Graf (52) am Herzen liegen. Seit zwölf Jahren arbeitet sie für das Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft und kümmert sich um die Förderung der beruflichen und sozialen Integration. „Ich will die Welt ein bisschen rosaroter machen“, sagt sie. Deshalb hat sie das Projekt „Wissen, Werte, Wir“ ins Leben gerufen.
Die Idee: Einmal in der Woche sollen sich Jugendliche zwischen 16 und 27 Jahren treffen, um gemeinsam für kulturelle Integration, Gleichberechtigung und Demokratie einzustehen. „Wir wollen das Miteinander und füreinander fördern“, sagt Graf. Ziel sei es, die Jugendlichen als „Wissensträger“ auszubilden, damit sie mit ihrem Verhalten und Aussagen positiv auf ihre Mitmenschen einwirken können.
1,5 Jahre von der Idee bis zur Genehmigung
Von der Idee bis zur Genehmigung habe es rund eineinhalb Jahre gedauert. Förderungen mussten beantragt, ein Raum für die wöchentlichen Treffen gefunden werden. Graf machte sich auf die Suche nach Gruppenleitern, versuchte, ihr Projekt unter die Leute zu bringen. „Am Anfang habe ich Leute auf der Straße angesprochen und sie gefragt, ob sie an dem Projekt teilnehmen wollen“, sagt Graf.
Die Idee sprach sich herum. An dem ersten Treffen nahmen sieben Jugendliche teil. Eine Woche später sind es fast doppelt so viele. Darunter neben Kübra Kisla auch Tayfun Samli. Der 31-Jährige ist einer der Gruppenleiter. Er ist in München geboren, lebt mittlerweile in Rosenheim und arbeitet in der IT-Branche. Seit sechs Jahren engagiert er sich zudem in der Jugendarbeit – seit Kurzem auch für das Projekt „Wissen, Werte, Wir“. „So etwas hat in Rosenheim bis jetzt gefehlt“, sagt der Deutsch-Türke. Er weiß, wie sich rassistische Kommentare anfühlen, will den Jugendlichen mit seinen eigenen Erfahrungen helfen.
Während der Treffen leitet er die Gesprächsrunden, diskutiert über Themen wie Gleichberechtigung, Feminismus und Sexismus. Der Gesprächsbedarf ist hoch. „Das erste Treffen hat fast vier Stunden gedauert“, sagt er.
Jede Woche kommen neue Gesichter dazu. Die Atmosphäre wird entspannter, die Teilnehmer offener. Zu den Treffen kommen Ausflüge in den Kletterwald oder Fahrten ins Konzentrationslager hinzu. Auch während der Corona-Pause bricht der Kontakt nicht ab. „Die Treffen haben virtuell stattgefunden“, sagt Graf. Seit einigen Wochen sitzen die 13 Jugendlichen wieder zusammen. Alle haben einen Migrationshintergrund.
„Ich hoffe, es kommen noch mehr Jugendliche dazu.“ Sie hat große Pläne für die Zukunft. Spricht davon, präsenter in den sozialen Medien zu sein, denkt darüber nach, Workshops an Schulen und in Jugendtreffs anzubieten. Bis es soweit ist, liegt ihr Fokus aber auf den wöchentlichen Treffen.
Das nächste findet am Mittwoch, 19. August, um 18 Uhr statt. Dann wird auch Kisla dabei sein. Höchstwahrscheinlich kommt sie mit ihrem Motorrad.