„Nein, Scipio. Das ist Schauspielkunst! Diese Leute begehen alle den Irrtum, nicht genügend ans Theater zu glauben. Sonst wüssten sie, dass es jedem Menschen erlaubt ist, die Tragödie des Himmels zu spielen und ein Gott zu werden.“ Da muss man Caligula, diesem Negativhelden in Albert Camus‘ gleichnamigem Drama allerdings Recht geben.
So dachte womöglich auch Oliver Reese, der Peymann-Nachfolger und neue Intendant des Berliner Ensembles, als er das Stück des Franzosen zur Eröffnungspremiere seiner Intendanz erkoren hat. Aber gewiss nicht gedacht hat Reese, dass ihm gleichzeitig vom Konkurrenzunternehmen, der Volksbühne, wo als Frank-Castorf-Nachfolger Chris Dercon angetreten ist, medial die Schau gestohlen wird. Nein, nicht von Dercon, der sein Haus noch gar nicht eröffnet hat, sondern von einem Kollektiv von Hausbesetzern mit dem Namen der Wasserstoffbombe B6112. Diese Leute und ihr Tross haben am Freitag das Theater gekapert, um die, wie sie glauben, von Dercon eingeleitete Kommerzialisierung des Hauses zu sprengen.
Soll man sich nun freuen über die straff organisierte, außerparlamentarische Theateropposition? Oliver Reese muss sich indes ärgern über das Störfeuer vom Rosa-Luxemburg-Platz. Denn es versaut ihm doch irgendwie medial Stimmung und Bilanz seiner so solide wie glanzvoll geplanten Eröffnungstrilogie am Berliner Ensemble. Nach Camus‘ „Caligula“ gab es im Kleinen Haus „Nichts von mir“ des Norwegers Arne Lygre und schließlich am Samstag – Tradition muss sein – „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Denn damit hatte der Dichter das Theater am Schifferbauerdamm, in das er mit seinem Berliner Ensemble einzog, 1954 eröffnet.
Um auf das Eingangszitat von Camus/Caligula zurückzukommen: Ein Gott war an diesen drei Eröffnungsabenden nicht auszumachen. Aber vielleicht eine kommende Göttin des Theaters. Stefanie Reinsperger, die junge Österreicherin (29), die zuletzt in Salzburg Jedermanns Buhlschaft war, spielt Brechts Magd Grusche mit einer solchen natürlichen Kraft, Einfachheit und Anmut und zugleich mit einem derart immensen schauspielerischen Können, dass ihr das Berliner Publikum quasi zu Füßen liegt. Wie sie dem Soldaten Simon Chachawa (Nico Holonics) scheu ihr Ja-Wort gibt, wie sie das von der flüchtenden Gouverneursfrau zurückgelassene Baby vor den Flammen und dann vor den Panzerreitern rettet, wie sie die Angst überwindet und ihr eigenes Glück aufs Spiel setzt für das Glück, das Kind überleben zu lassen – das ist sehenswert.
Natürlich ist das auch ein Verdienst von Regisseur Michael Thalheimer. Er hat das Brecht-Drama radikal entschlackt, hat die stalinistische, in einem kaukasischen Kolchos spielende Rahmenhandlung gestrichen, hat ganze Szenen rausgeschmissen, manche schöne dabei wie Grusches lebensgefährliche, von allen Himmlischen gesicherte Überquerung der morschen Talbrücke oder auch das Happy-End von Grusche und ihrem Soldaten. Und er hat das auf knapp zwei Stunden reduzierte Spiel auf die leere Bühne gestellt. Einen Bühnenbildner gibt es diesmal nicht. Als Erzähler lässt Ingo Hülsmann wie ein lässig-arroganter bis zynischer Reporter am Mikrofon Brechts Verse wunderbar, aber auch hart leuchten. Und statt der Musik von Paul Dessau begleiten die Jazzgitarristen Kai Brückner und Kalle Kalima live nach den Noten von Bert Wrede das Bühnengeschehen.
Die Darsteller – sie spielen teilweise mehrere Rollen – treten jeweils zu ihrer Szene aus der dunklen Tiefe der Bühne hervor. Leider wird viel zu viel gebrüllt, was der Erkenntnis von Text und Dialektik nicht zuträglich ist. Das trifft auch auf die lange Schlusspassage des Stücks zu, die dem Richter Azdak (Tilo Nest) mit seiner salomonischen Entscheidung der Frage „Wessen Kind ist das Kind?“ gehört. Diesem Azdak fehlt der Charme der Anarchie, fehlt die Schlitzohrigkeit, fehlt es für diese berühmte Rolle eigentlich an allem. Mit roter Blutfarbe übergossen theatert sich Nest durch den Text und entbehrt dabei jeder Komik. Hier versagt Thalheimers strenger Zugriff, und es geht kaputt, was Dank Stefanie Reinsperger so verheißungsvoll begann.
Der Neuanfang am Berliner Ensemble ist gekennzeichnet durch starke Darstellerinnen. Allerdings hätte man Constanze Becker ein besseres Antrittsstück gewünscht als „Caligula“, in dem sie mit ihrer schauspielerischen Brillanz und perfekten Künstlichkeit die Titelrolle prägt, nicht aber deren Zerrissenheit und Wahnsinn zu fassen kriegt. Antú Romero Nunes hat es bildgewaltig inszeniert, einen Zugang zu dem Thesen-Drama über die Absurdität von absoluter Freiheit hat er nicht gefunden. Es erweist sich nicht nur thematisch als falsche Wahl für den Auftakt einer neuen Theaterära; dieses Erstlingswerk des 25-jährigen Camus ist kein gutes Stück.
Das lässt sich über „Nichts von mir“, der zweiten Premiere, nicht behaupten. Hier stimmt es perfekt. Worum geht’s? Um nichts. Und um alles. Also um Beziehungen – Mann, Frau, Mutter, Kind, Ehebruch, Liebe, Tod und so weiter. Ein Paar, sechs Schauspieler, drei Männer, drei Frauen, drei verschiedene Lebensalter, parallel agierend, schwer auseinanderzuhalten, unaufwendig, leise, großartig. Regie führte Mateja Koležnik, die bei aller minimalistischen Kargheit ihren Künstlern den bestmöglichen Raum zur Entfaltung gibt: Corinna Kirchhoff, Judith Engel und Anne Ratte-Polle, Gerrit Jansen, Martin Rentzsch und der junge Owen Peter Read. „Es will alles organisiert sein, auch die Kunst.“ Stimmt. Und damit hat Caligula wiederum Recht.
Informationen:
Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1; Karten: 030/ 284 08 155.