Premierenkritik

Plaudern in Zeiten der Cholera

von Redaktion

David Bösch eröffnete mit seiner Inszenierung von Gorkis Stück „Kinder der Sonne“ die Spielzeit am Residenztheater

Von Michael Schleicher

An ihren Füßen werdet Ihr sie unterscheiden können: Wer nicht vollkommen die Bodenhaftung verloren hat, wer noch spüren kann, was zwischen den Menschen hier geschieht und welche Ängste, Nöte das Volk draußen umtreiben, der steht barfuß auf der Bühne.

Mit David Böschs Inszenierung von „Kinder der Sonne“ ist das Münchner Residenztheater am Samstag in die neue Spielzeit gestartet. Maxim Gorki (1868-1936) schrieb sein Stück 1905 in Festungshaft, weil er nach dem sogenannten Petersburger Blutsonntag, als Soldaten unbewaffnete Zivilisten abschlachteten, zum „Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft“ aufgerufen hatte.

Das Drama erzählt vom Vorabend der Revolution, von der grassierenden Cholera – und von der Unfähigkeit einer Oberschicht aus Wissenschaftlern und Künstlern, gesellschaftliche Sorgen und Veränderungen wahrzunehmen, gar auf diese zu reagieren. Bösch schiebt in den zweieinhalb Stunden (eine Pause) jedoch all das drängend Politische zurück und fokussiert sich auf die Konversationskomödie, aufs Plaudern in Zeiten der Cholera. Selbst der Aufstand der Abgehängten am Ende verpufft – kurz wird die Wohnung des Wissenschaftlers  Protassow gefleddert, das war’s.

Kostümbildnerin Meentje Nielsen hatte die charmante, einleuchtende Barfuß-Idee, um all jene in Gorkis schillernd-egomanen Reigen kenntlich zu machen, die fähig  sind  zur Empathie. Es ist nur Lisa. Mathilde Bundschuh, die Protassows Schwester traumwandlerisch zwischen Entsetzen und Engagement agieren lässt, spielt als Einzige den Abend über ohne Schuhe. Sie, von der alle behaupten, dass sie krank und vom Leben überfordert sei, steht doch mittendrin: „Ihr belügt euch und alle anderen“, analysiert sie den Haufen um sich herum, der sich für die Zukunft hält. Erst, als sich Protassows Gattin Jelena entschließt, die erkrankte Frau des Schlossers zu umsorgen, wird auch sie mit nackten Füßen davoneilen.

Mehr genau gearbeitete Details wie dieses, mehr Analyse-Versessenheit hätte man der Inszenierung gewünscht, die noch gut Luft nach oben hat. Neben Bundschuh, deren Lisa zwar zur Erkenntnis fähig ist, aber im eigenen Leben tödlich mutlos agiert, überzeugen Till Firit als verzweifelt verliebter Tierarzt und Norman Hacker. Sein Protassow ist IQ-Autist, in seiner Überforderung durchaus liebenswert: Wird’s ihm zu heikel mit den Menschen, flieht er in sein Labor wie ein Kaninchen in den Bau.

Bösch glückt zwar manch guter Moment. Trotzdem bleibt der Abend letztlich unentschlossen und gebremst wie Gorkis Figuren. Dabei ist gerade Protassow getrieben von seiner Suche nach dem Ursprung des Daseins – von jenem selbst aber ist er heillos überfordert. Weder bemerkt er, wie seine Frau unter seiner Nichtbeachtung verkümmert, noch spürt er, wie sehr die Schwester des Tierarztes auf ihn abfährt. Und schon gar nicht bekommt er mit, was draußen im Land vor sich geht. Protassow steht so unpassend-überflüssig in seinem Leben wie der Flügel in seinem Studiensaal-Zuhause.

Patrick Bannwart hat die Wohnung des Wissenschaftlers als heruntergekommene Mischung mit zahlreichen Türen eingerichtet, die alle genutzt werden wollen. Ein einst herrschaftlicher Raum, inzwischen Hörsaal und Laborlager mit zusammengeklaubten Möbeln. Die Wände sind zugepflastert mit Klebezetteln und Schautafeln, mit Formeln und anatomischen Detailzeichnungen. Schließlich ist Protassow ein Mann, „der das Leben in Atome zerlegt“. Ahnung hat er dennoch keine.

Gorki führt eine Elite vor, die den Kontakt zur Gesellschaft ebenso verloren hat wie das Verständnis für den Allernächsten. Daraus hätte die Regie Funken schlagen müssen – ohne den Stoff zwanghaft ins Heute zu übertragen. Die Liebeswirren und die boulevardesken Perlen der Vorlage sind obendrein prächtiger Stoff für Komik von bitter bis krachend. Doch Bösch und sein Ensemble lassen all das meist ungenutzt, stellen Karikaturen aus, wo Menschenzeichnung spannend gewesen wäre. Der Abend bleibt auf Wohlfühltemperatur einer Klipp-Klapp-Komödie. Zur packenden Gegenwartsanalyse fehlt die Durchdringung des Textes, zum Pointenfeuerwerk mindestens drei Umdrehungen an der Irrsinnsschraube. So schnurrt diese Inszenierung zwar reibungslos dahin – letztlich aber auch harmlos unaufregend. Dennoch herzlicher Applaus.

Nächste Vorstellungen

am 29. September, 14. und 29. Oktober;

Telefon 089/ 21 85 1940.

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