Irgendwie ein erstaunliches Phänomen: Der US-Choreograf Trajal Harrell wird seit einiger Zeit weltweit von Theater zu Festival gereicht. Und dank einer der Mode nahen bildnerischen Farbe ist er sogar in Museen wie dem New Yorker MoMa, dem Londoner Barbican und dem Pariser Centre Pompidou vertreten. Nach Gastspielen bei Münchens Dance 2015 als auch 2017 nahm er hierorts jetzt ganz neue Herausforderungen an: eine Inszenierung an Matthias Lilienthals Münchner Kammerspielen mit einem Ensemble aus hauseigenen Darstellern und mitgebrachten Tänzern.
Der Abend titelt „Juliet & Romeo“, wobei Shakespeare eher nur als Ausgangsfolie dient. Die Zuschauer in der Kammer 2 applaudierten wie eine Fangemeinde. Was ist Harrells Erfolgsgeheimnis? Geprägt zunächst durch die Postmoderne der New Yorker Judson-Church-Bewegung, schneidet Harrell, als Afroamerikaner offensichtlich freier als andere Choreografen, den konzeptuell-abstrakten postmodernen Tanz fast surreal zusammen mit Elementen der Popkultur. Das heißt, vornehmlich mit dem Voguing (abgeleitet von der Zeitschrift „Vogue“), einem Stil, der sich zu Beginn der Achtzigerjahre in der New Yorker homosexuellen Subkultur aus dem Laufstegschreiten der Models entwickelte und damit auch eng verbunden ist mit dem Sich-selbst-Erfinden durch Mode. Das kommt blendend beim Publikum an, zumal Harrell über die skurrile bis süffige Optik hinaus immer auf großes Gefühl abzielt – mit Vorliebe via klassischem literarischem Stoff. So im 2015 hier gesehenen „Antigone SR./ twenty looks or Paris is burning at the Judson Church“, einem großartig gebauten Stück zwischen (Live-)Musik/ Gesang, Text und brillanter Voguing-Performance.
Da nimmt sich „J & R“ wie eine erste Einübung in Harrells Handschrift aus. Bei ihrem staksig ungeübten Catwalking um die beiden in den Boden eingelassenen Gräber herum wirken die Darsteller (mit Ausnahme eines langjährigen Harrell-Tänzers) auf ihren dürren Männerbeinen eher rührend. Variiert wird hier, zwangsweise, nicht mit kantigen Hip-Hop-Vokabeln, sondern mit simplen „Chassé“- und Galopp-Schritten. Aber gut, um Technik soll es ja bei den Voguing-Wettbewerben in den Szene-Ballrooms gar nicht gehen. Immerhin, selbstverständlich geworden ist hier – wie ohnehin üblich in den Anfängen des Theaters – der Mann in Frauenrollen; stimmungsfördernd die Musikcollage zwischen Barock, (Latin-)Pop und Disco und schon normal im zeitgenössischen Theater ist die Ablösung von der Vorlage hin ganz allgemein zu den großen menschlichen Themen. Leider lässt Harrell sein Ensemble die Liebe kärglich abhandeln in knappen Shakespeare-Zitaten und einer Endlos-Aufzählung: „lieb mich, nähr mich, küss mich, iss mich…“
Und für Tod und Trauer ist man aus dem deutschen Tanztheater stärkere Bilder gewohnt als sich krümmende Körper. Vielleicht hätte Harrell alles weglassen und sich auf sein Solo als Julias mitfühlende Amme beschränken sollen. Wie der Choreograf, sich minimalistisch wiegend, kreisend, mit sanft geführten Armen das menschliche Vergehen betrauert, erinnert entfernt an die Gestaltung des Butoh-Meisters Kazuo Ohno. In seinem gegen Ende einen Song gestisch interpretierenden Sitz-Solo ist es dann schon zu viel des expressionistischen Schmerzes. Gleichviel, für ihn wie für die Münchner war diese Produktion sicher ein fruchtbarer Lernprozess.
Nächste Vorstellungen
am 19. , 20., 21. November; Karten: 089/ 23 39 66 00.