Sechs Kurzgeschichten versammelt Anthony Doerr in „Die Tiefe“. Aber es reicht schon, die titelgebende erste zu lesen, um sich zu erinnern, was dieser Autor, der 2015 für seinen berührenden Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ über zwei Kriegskinder den Pulitzerpreis gewonnen hat, mit Worten vermag. Man entsinnt sich einer unendlichen Zartheit, einer berückend klaren Sprache, die einen hineinzieht in die Geschichte; eines Fremdbleibens und doch so Naheseins der Figuren, einer Distanz und Vertrautheit, einer merkwürdig bindenden Kraft.
Aufhören mit dem Lesen sollte man nach der Lektüre der ersten Geschichte aber mitnichten, man kann es auch kaum und will es schon gar nicht. Egal, wie fern die Lebenslage der jeweiligen Figuren der eigenen Situation sein mag – mal steht ein Junge mit einem lebensgefährlichen Herzfehler im Mittelpunkt, dessen erste Liebe ihn mit jeder in ihm ausgelösten Emotion umzubringen droht, mal ein Soldat, der sich ins Minengebiet begibt, um einen Vogel zu bestatten, mal eine emigrierte Jüdin, die mit dem eigenen Überleben und dem Tod der anderen ringt – Doerr gelingt es mit einem schier sprachlos machenden Ausdrucksvermögen mühelos, ihre Gefühle zu unseren zu machen. Er schreibt über den Schmerz, das schon, über den süßen Stich des Habenwollens, das stetige Nagen des Nichthabenkönnens, die dumpfe Pein der Erinnerung, den dröhnenden, allgegenwärtigen Verlust. Doch erzählt er von all diesen Qualen so behutsam, so leicht und vor allem so schön, dass man beinahe hofft, das Buch möge nie enden. Eine perfekte, melancholische, tröstliche Herbstlektüre.
Anthony Doerr:
„Die Tiefe“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. C. H. Beck, München, 267 Seiten; 22 Euro.