Tänzer genauso wie Maler, Musiker oder Schauspieler waren von jeher Migranten: Kunstnomaden auf der Suche nach neuen inspirierenden Aufgaben, bei halbwegs existenzsicherndem Honorar. Der französische Tänzer und Choreograf Marius Petipa, wohl das berühmteste Beispiel, prägte ab 1847 das St. Petersburger Mariinsky Ballett mit seinen Klassikern, die in Folge ins Weltrepertoire eingingen. Seine Prima, die technisch überragende Pierina Legnani aus Mailand – kleine Anekdote am Rande –, drehte als Erste und damals Einzige die speziell für sie in den „Schwanensee“ eingefügten 32 Fouettés.
Auch in München waren es französische und italienische Ballettmeister, die im 17. und 18. Jahrhundert die Hofballette arrangierten. Wirkungsreiche Choreografin von 1869 bis 1875 war die Dänin Lucile Grahn, nach der eine Münchner Straße benannt ist. Zwischen 1968 und 1986 saßen hier neben den Deutschen Dieter Gackstetter und Edmund Gleede drei Briten auf dem Chefsessel: der berühmte Erneuerer des Handlungsballetts John Cranko, Kollege Ronald Hynd und die Royal-Ballet-Ballerina Lynn Seymour. Im damals noch der Oper unterstellten Ensemble wie auch in Konstanze Vernons 1989 durchgesetztem eigenständigem Staatsballett tanzten viele Ausländer, hauptsächlich aus Europa. Eher die Ausnahme, zumindest bis in die Achtzigerjahre, waren Tänzer aus (Süd-)Amerika oder Asien, wie die beiden fulminanten Solisten Joice Cuoco aus den USA und der Japaner Hideo Fukagawa.
Jetzt unter Ballettchef Igor Zelensky zählt man zwischen Australien und China, Brasilien und Südkorea 22 (!) Nationalitäten. Eine kontinuierliche Entwicklung, allerdings ausgelöst durch jeweils verschiedene gesellschaftspolitische Gegebenheiten und Veränderungen. Deutschland, durch sein Hoftheatersystem außergewöhnlich reich an Bühnen, aber ohne die Ballett-(Ausbildungs-)Tradition der Engländer, Franzosen, Italiener und Russen, war speziell nach dem Krieg schlichtweg auf ausländische Tänzer angewiesen. Mit Gorbatschows Glasnost, durch den Wegfall von europäischen Grenzen, dann auch durch bezahlbaren Transport und die schier unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten unseres digitalen Zeitalters ist die Welt zum globalen Dorf geschrumpft – was sich unmittelbar im Staatsballett spiegelt.
Wer sind nun diese Menschen, die sich trotz anstrengendem Umzug und Neueingewöhnung in ein fremdes Land fürs Bayerische Staatsballett entschieden haben? Lediglich Abenteurer? Egozentrische Ausbeuter ihrer jugendlichen Körperkraft? Das Klischee des weit ab vom gesellschaftspolitischen Geschehen tunnelartig auf Training und Bühnenauftritt gepolten Tänzers trifft aber nicht. Die fünf neuen Mitglieder, die wir gesprochen haben, sind zwar verständlicherweise auf ihre ja nur kurze Laufbahn konzentriert, wirken aber realitätsbewusst und weltoffen.
Die erst 21-jährige Demi-Solistin Arianna Maldini aus Rimini, Absolventin der Ballettakademie der Mailänder Scala, rundete ihre Ausbildung in der Londoner Royal Ballet Upper School ab, harte Volontärszeit im Royal Ballet inklusive. In dem ganz anderen, zudem breit gefächerten Münchner Repertoire sieht sie eine Möglichkeit, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Neue Stücke, neue menschliche Erfahrungen, das ist die Motivation für alle Ankömmlinge hier.
Die Kalifornierin und Ex-Solistin des renommierten San Francisco Ballet Kristina Lind beschreibt ihren ersten Sprung über den Großen Teich, nämlich 2015 ans Holländische Nationalballett, als positiven Kulturschock: „Diese entspannte holländische Lebensart, bei der man sich Zeit nimmt, im Gegensatz zum US-High-Energy-Lifestyle, zu diesem aufgeheizten Silicon-Valley-Arbeitstempo, das war genau, was ich in dem Moment brauchte.“ Und hier ist sie freudig überrascht, dass das Staatsballett innerhalb der Stadt „eine viel größere Wertschätzung genießt als das San Francisco Ballet“. Hellwach für das gesellschaftliche Umfeld, für kulturelle Veränderungen ist auch die Britin Laurretta Summerscales. In der Ballettschule ihrer Mutter schon ab drei Jahren in diesen Beruf hineingewachsen, ertanzt sie sich schnell die Position der Ersten Solistin im English National Ballet. In dieser Touring Company ohne eigenes Haus, mit begrenztem Repertoire wurde es ihr nach acht Jahren zu eng. „Man hat dort enorm viele Vorstellungen“, erzählt sie. „Um Weihnachten herum auch mal vier Wochen ensuite ,Nussknacker‘!“ Kritikfähigkeit, einen künstlerischen Selbststand zu erringen ist wohl ihre oberste Leitlinie. Zum „Klassik-Moderne-Verhältnis“ meint sie entschieden: „Statt die klassischen Ensembles moderne Stücke tanzen zu lassen, sollte man, wie William Forsythe es vorgemacht hat, die Klassik selbst in eine zeitgenössische Form überführen.“
Die Kubaner Yonah Acosta, Ehemann übrigens von Summerscales, und Alejandro Virelles, beide in der exzellenten kubanischen Ausbildung und dem dortigen Nationalballett ganz auf die Danse d’école zugeschliffen, bevorzugen zwar die Klassik. Aber sie betonen, dass moderner, zeitgenössischer Tanz mit seiner Beanspruchung anderer Muskeln und Sehnen das klassische Ballett auf förderliche Weise auflockere. Beide, zuletzt im English National Ballet, stürzen sich begeistert in die für sie neuen Werke. Acosta hat bereits als hinreißender Petrucchio in John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ seine Visitenkarte abgegeben. Virelles wird in Christian Spucks „Anna Karenina“ den Wronski tanzen, vielleicht sogar in der Premiere am 19. November. Wenn er noch so in Form ist wie in den Video-Beispielen im Netz (von 2011 bis 2015), dann hat München endlich einen hervorragenden Danseur noble. Igor Zelenskys Bayerisches Staatsballett wird wohl nie eine so einheitlich geschulte Truppe sein wie das St. Petersburger Mariinsky oder das Ballett der Pariser Oper. Aber die 22 Nationalitäten zu einem ganz eigenen farbigen Ensemble zusammenzuschweißen, scheint doch eine spannende Aufgabe.
Premiere
von Christian Spucks „Anna Karenina“ ist am 19.11.; weitere Vorstellungen am 25.11., 1.12.; 089/ 21 80 19 20.